Victor Klemperer Tagebücher „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ gelten als eine der eindrücklichsten Schilderungen des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945. Kurz vor Ende des Krieges führte den Sohn eines Rabbiners eine abenteuerliche Flucht ins Wittelsbacher Land. Wie er diese Zeit und das Dorf Unterbernbach bei Kühbach erlebt, kann man auf einer Wanderung nachvollziehen.
Victor Klemperer wurde am 9. Oktober 1881 im heutigen Polen geboren. 1906 heiratete er die Pianistin und Musikwissenschaftlerin Eva Schlemmer. 1912 konvertierte er zum Protestantismus. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zum Professor für Romanistik an die Technische Hochschule in Dresden berufen. Wegen des NS-Reichsbürgergesetzes wurde er 1935 entlassen und lebte fortan mit seiner „arischen“ Frau in mehreren Judenhäusern. Nur mit Glück entkam er dem Holocaust und überlebte die Nazizeit und den schrecklichen Angriff auf Dresden vom 13. auf 14. Februar 1945.

Über mehrere Orte landeten Victor und Eva Klemperer auf ihrer langen Flucht von Dresden über München in Aichach. Am 11. April 1945 begrüßte Aichach die Familie „mit je drei Tassen Kaffee im Bahnhofsrestaurant“. Vom Landratsamt wurde die Familie Klemperer zunächst „zu Fuß“ nach Inchenhofen geschickt. Nach weiteren Verhandlungen wurde ihnen Unterbernbach zugewiesen.

Mit dem „militärüberfüllten Zug“ ging es am 12. April nach Radersdorf. „Von da aus geht eine erbarmungslose Landstraße schlängelnd in NW-Richtung, aber nicht zehn, sondern sehr reichliche dreißig Minuten lang nach Unterbernbach“, wo sie zunächst im Gasthaus bei einer „freundlichen Wirtin Abendbrot“ bekamen, ehe sie beim Ortsbauernführer Flamensbeck Unterkunft fanden (Dekan-Moll-Straße 14). „Von diesem Augenblick an ging es uns gut.“
Bald lernen sie im Schulhaus die „Lehrerin Fräulein Haberl und ihre verheiratete Schwester, Frau Steiner“, kennen. Die Wirtschaft, das Haus des Ortsbauernführers und das Schulhaus sind in der Folge die am meisten besuchten Orte. Über Unterbernbach erzählt Klemperer: „Das Dorf hat keinen Bäcker, keinen Schuster, nichts, nur ein Lädchen, in dem kaum etwas zu haben. Aber das Dorf ist offenbar wohlhabend und sehr sauber gehalten.“

Immer wieder mussten die Klemperers nach Aichach, sei es aufs Amt oder zum Einkaufen. Der Weg dorthin führte sie über Radersdorf und Oberbernbach oder aber auch weiter östlich über Haslangkreit, Kühbach und Unterwittelsbach. Gern hielten sie sich auch im Wäldchen nördlich von Unterbernbach auf.
Das Kriegsgeschehen bekamen die Klemperers vor allem aus der Ferne mit: „Täglich und nächtlich die Alarme, die sich von hier aus mit relativer Ruhe hören lassen, das tiefe Summen der Geschwader, die oft sichtbar in Gruppen zu sechs, zu zehn, zu mehr Einheiten, Staffel um Staffel in allen Richtungen fliegen, meist etliche tausend Meter hoch als Silberfischchen, heute Vormittag unverschämt tief, groß und grau unter grauer Wolkendecke; täglich und nächtlich das ferne Krachen von Bombeneinschlägen, das ganz ferne Rollen der Front, das seltsame Klirren und Schüttern der Fenster, das Knattern eines MGs oder eines Flakgeschützes, die einzelne undefinierbare Explosion […] Heute war die Fliegerei den ganzen Vormittag über eine unaufhörliche; nachher hörten wir, ein Tiefflieger habe bei Aichach zwei Mädchen und ein Ochsengespann erschossen.“

Ende April schreibt Victor Klemperer über das nahende Kriegsende: „Von überallher hörte man Frontfeuer, Bombendetonationen, ziehende Verbände und avions de chasse (=Jagdflugzeuge) in großer Höhe, herabstoßende Jäger, das Rattern eines MG-Streifens […] Plötzlich ging das schon gewohnte Geschützfeuer in ganz nahes Krachen und in das Knallen einzelner Schüsse über, Eva hörte auch das Pfeifen einer Kugel - offenbar wurde nun an unserem Waldrand, vor unserem Dorf, unserer Ecke gekämpft. Wir eilten hinunter, das Haus stand leer, man war schon im Bunker, man hatte uns vergessen. […] Danach saßen wir dann im Bunker, manchmal steckte ich den Kopf heraus, ohne etwas zu entdecken, die Bauersfrau holte Essen für ihre Leute, wir hungerten, und so gegen zwei Uhr trauten wir uns wieder heim und machten uns einen Kaffee. Das Dorf war über-, genauer: umrollt worden, nur am Rand ,unseres‘ Waldstreifens hatte eine kleine, letzte Soldatengruppe noch ein paar Minuten Widerstand geleistet, bevor auch sie geflüchtet war. Der Krieg lag hinter uns, während wir ihn noch vor uns glaubten. […] 29. April, sonntagmorgens. Allgemeine Tedeum-laudamus-Stimmung.“

Da Klemperer nun bemüht war, unbedingt nach Dresden zurückzukommen, musste er am 14. Mai wieder nach Aichach: „Der größte Eindruck der gestrigen Fahrt nach Aichach: Auf dem Hauptplatz, dicht am alten Tor, weht am Fahnenmast, der so hoch ist, wie es die nazistischen waren, so groß und stoffüppig wie das Hakenkreuzbanner, weiß und rot gestreift mit den goldenen Sternen auf blauer Gösch, das Banner der USA. [...] Im Strasser-Laden stand hinter dem Ladentisch eine Frau mit österreichischem Dialekt. Jetzt sagte ich ihr halblaut in wenigen Worten, wer ich sei, und schob ihr meinen Pass hin. Sofort strahlende Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Achtungsbezeugung. Ein ,Herr Professor‘ um den anderen. Ob ich eine finanzielle Hilfe brauchte, ob ich anständig untergebracht sei, für Kleidung würde gesorgt werden, morgen habe sie den Bürgermeister von Unterbernbach da, sie wolle meinen Namen notieren: ,K-l-e-m-p-e-r-e-r‘, strahlend: ,schon g‘hört‘ - sie wird wohl Georg oder Otto Klemperer nennen gehört haben, immerhin, ich hatte meine Chance. - [...] Abends im Schulhaus sagte ich, ich wollte nicht mehr mit verdeckten Karten spielen, berichtete und zeigte meinen Judenpass. ,Wir haben schon ähnliches vermutet.‘ - ,Und wir nehmen auch von Ihnen an, dass Sie einigermaßen im Bilde sein dürften.‘ …Es wurde ein langer und intimer Abend [...]. Ich gehörte nun zu den Auserwählten, als jüdisches Opfer der Nazis und als großes Tier der many books. [...] Wir waren nun in Unterbernbach wirklich die großen Tiere.“

Am 18. Mai endete für das Ehepaar Klemperer die Zeit in Unterbernbach. Der Direktor der Aichacher Kunstmühle brachte sie nach München. Über München, wo es noch viele Schwierigkeiten zu überwinden galt, kamen sie am 10. Juni 1945 wieder in Dresden an.
Er wurde später an der dortigen Technischen Hochschule Professor. 1951 starb seine Frau Eva. In zweiter Ehe war Klemperer mit Hadwig Kirchner verheiratet, die auch nach seinem Tod 1960 in Dresden als Mitherausgeberin der Tagebücher fungierte.
Wanderung auf den Spuren Vicotor Klemperers: Die Route
Die Wanderung auf den Spuren Victor Klemperers beginnt an der Pfarrkirche St. Martin in Unterbernbach. Man wandert auf der wohl auch von den Klemperers benutzten Straße nach Haslangkreit nach Osten, überquert bald die Eisenbahnlinie und gleich darauf die Paar und sieht dann einen kleinen, von Eichen bestandenen Hügel, den sogenannten Judenbühl, vielleicht ehemals ein kleiner Turmhügel.

Bei einer scharfen Kurve geht es nach Süden weiter. Am folgenden Waldrand wenden die Spaziergänger sich wenige Meter nach rechts und treten dann in den Wald ein. Es geht einen knappen Kilometer kerzengerade durch den Wald. Vom Waldrand ist es nicht mehr weit zur Fahrstraße nach Haslangkreit. Sie biegen nach rechts in die erste Straße ab und erreichen schnell rechter Hand das Schloss.
Zunächst am Schlossgarten und Schlossweiher entlang bringt einen dann eine gut ausgebaute Straße hinüber zur Paar. Vor der Brücke wenden die Wanderer sich nach links und erreichen immer entlang der Mäander der Paar die Kläranlage und die Hauptstraße Radersdorf-Paar. Entlang dieser Hauptstraße wandern sie nun nach rechts weiter. Nach einem weiten Bogen überschreiten sie das Bahngleis und biegen sofort anschließend in Richtung Bahnhof Radersdorf ab. Ihn erreichen sie nach etwa 450 Metern.
Hier kam die Familie Klemperer am 12. April 1945 an und ging denselben Weg nach Unterbernbach wie die Wanderer jetzt. Dieser biegt nach 280 Metern nach links ab, erreicht schnell die AIC 5, entlang der es auf dem sie begleitenden Fuß- und Radweg nach Unterbernbach geht. Man biegt erst in die fünfte Seitenstraße, die Dekan-Moll-Straße, ab.

Denn als erstes Haus auf der linken Straßenseite sieht man das ehemalige Pfarrhaus, heute Kindergarten St. Martin. Hier spielt ein großer Teil der Geschichte der Familie in Unterbernbach. Bald erreichen die Spaziergänger dann bei der Nr. 14 das Haus der Flamensbeck, heute ein denkmalgeschütztes, fast dem Verfall preisgegebenes Bauernhaus. Gegenüber stand wohl die ehemalige, heute abgegangene Wirtschaft. Nun ist es nicht mehr weit zur Kirche, unserem Ausgangspunkt.
Wegstrecke: 8,1 Kilometer
Die Zitate stammen aus: Victor Klemperer: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten – Tagebücher 1933-1945“, hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer.
Das Buch
Diese Wanderung ist dem Buch „Sonntagswandern im Wittelsbacher Land“ von Gabriele und Dr. Hubert Raab entnommen. Preis 24,80 Euro, 190 Seiten, erschienen im Wißner-Verlag, Verkauf über die Buchhandlungen in Aichach (Rupprecht), Friedberg (lesenswert) und Mering (Platzbecker) sowie über das Landratsamt Aichach-Friedberg.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden