Startseite
Icon Pfeil nach unten
Aichach
Icon Pfeil nach unten

Aufwachsen im Dritten Reich: Ein Zeitzeuge erzählt von der Hitlerjugend

Affing-Haunswies

Erinnerungen eines Hitlerjungen: Auf naive Begeisterung folgt tiefes Entsetzen

    • |
    • |
    • |
    Die Hitlerjugend in Aichach: Die Aufnahme entstand 1935, als die Heimstätteneinweihung mit Gauleiter Wagner
stattfand.
    Die Hitlerjugend in Aichach: Die Aufnahme entstand 1935, als die Heimstätteneinweihung mit Gauleiter Wagner stattfand. Foto: Erich Echter (Repro)

    Hassreden verbreiten sich – nicht nur in Parlamenten und im Internet. Diese aktuelle Entwicklung beobachtet Martin Golling aus Weichenberg (Aindling) mit Sorge. Er erinnert sich an eine Erzählung seines Vaters Konrad Golling, Jahrgang 1930, gestorben 2015, der als Dorfpoet von Haunswies (Affing) bekannt war. Dieser habe bei einer dreiwöchigen Indoktrination als Hitlerjunge erfahren, wie subtil sich das entmenschlichte Wort in Seelengift verwandeln könne. Der Sohn erinnert sich: „Auch noch knapp 40 Jahre später war mein Vater erschrocken über seine eigene Gleichgültigkeit. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Nazi-Regime junge Herzen vergiftete, gab den Anlass, seine Erlebnisse der Nachwelt zu hinterlassen – eine Warnung an uns alle.“ Nachfolgend gibt der Sohn die Erzählung seines Vaters wieder:

    Ich war erst 13 Jahre alt, als 1943 die Nachricht kam, dass nach dem „Heldentod“ meines Bruders Josef auch noch Jakob als vermisst gelte. (...). Auf unserem Hof war kein Volljähriger mehr da, der die anstehenden Arbeiten hätte verrichten können. Ortsgruppenleiter Menzinger hatte beim Einrücken von Josef schon versprochen, Jakob vom Dienst an der Waffe befreien zu lassen. Meine Schwestern warfen deshalb dem Nazi-Mann vor, er habe sein Versprechen gebrochen: „…und du hast nichts getan!?“ (...) Wenige Tage danach kam ein Nazi-Mann aus unserem Ort und redete auf meine Mutter und meine Schwestern ein: „Ihr müsst euch beim Menzinger entschuldigen. Sonst lässt er euch alle ins KZ nach Dachau bringen.“

    Vom Konzentrationslager Dachau ist in Haunswies schon früh die Rede

    Da stand also der Begriff „Dachau“ im Raum. Wir alle wussten, dass es dort furchtbar sein müsse. Das hatte uns das Schicksal von Georg Hirschmann aus Lechhausen vermittelt. Er hatte wohl in einer Wirtschaft zu viel Bier getrunken und dort angeblich laut über das Nazi-Regime geschimpft. Wenige Tage danach wurde er von Gestapo-Leuten abgeholt – er kam nach Dachau. Im Oktober 1941 ist er dort umgekommen. Einige Wochen später erhielt sein Bruder Karl in Haunswies eine Dose aus Dachau mit der Asche seines Bruders. Er war nur 46 Jahre alt geworden.

    "Beim Schmill" hieß der Hausname der Familie Golling in Haunswies. Auf dem Bild, das etwa von 1950 stammt, sind auch die jungen Golling-Schwestern zu sehen, die dem Ortsgruppenleiter im Dezember 1943 schwere Vorwürfe gemacht hatten.
    "Beim Schmill" hieß der Hausname der Familie Golling in Haunswies. Auf dem Bild, das etwa von 1950 stammt, sind auch die jungen Golling-Schwestern zu sehen, die dem Ortsgruppenleiter im Dezember 1943 schwere Vorwürfe gemacht hatten. Foto: Sammlung Golling

    Doch uns Buben vermittelte das Zusammentreffen mit der Denkweise der Nazis zunächst eine unglaubliche Geborgenheit und ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das ich erst später begann, kritisch zu hinterfragen. Und das kam so:

    Die Hitlerjugend machte Werbung für einen dreiwöchigen Lehrgang, von dem etliche ältere Haunswieser Buben begeistert erzählten. Der Lehrgang war in Bayersoien bei Murnau. Es muss im Frühjahr 1945 gewesen sein (...). Der Bäckersohn Ignaz Eichner aus Affing war mit mir dort, ebenso wie viele Jugendliche aus unserem Landkreis. Wir alle schauten bewundernd zu dem Kursleiter auf, einem jungen Unteroffizier, der seinen linken Arm im Krieg verloren hatte. Wir hatten Vorträge, Spaziergänge und Aufträge.

    NS-Zeit: Das Lied vom „jungen Sturmsoldaten“ zeigt Wirkung

    Die englischen Lightning-Flugzeuge warfen fast täglich Flugblätter und Waffen ab. Die bayerische Bevölkerung sollte das Hitler-Regime von innen her bekämpfen. Mit Eifer sammelten wir die Flugblätter und trugen sie mit den vereinzelt gefundenen Waffen heim. Die Flugblätter wurden verbrannt, die Waffen kamen zum Bürgermeister. „Die Flugblätter darf niemand lesen. Ihr dürft sie auf keinen Fall mit nach Hause nehmen“, lautete der Befehl. Klar, dass ich doch eines mit nach Haunswies schmuggelte. Vis à vis unseres Anwesens wohnten gefangene Franzosen. Ihnen zeigte ich heimlich das Flugblatt. Jean, der sehr gut Deutsch sprach, sagte mit hoffnungsvollem Blick: „Krieg dauert nicht mehr lange.“

    In den Wochen in Bayersoien gab es Sachen, die wir als Kinder noch nicht verstanden. Es wurde gesungen und mit dem Liedgut transportierten die Nazis das Gift ihrer Ideologie. Harmlos waren Marschlieder wie „Oh, du schöner Westerwald“. Langsam steigerten die Organisatoren unsere Belastbarkeit. So etwa mit dem Lied vom „jungen Sturmsoldaten“, bei dem in der dritten Strophe ein Sturmsoldat mit einem „frohen Mut“ ins Feuer geht, und in dem anschließend mit drastischen Worten zum Mord an Juden aufgerufen wird.

    2014 erzählte Konrad Golling unserer Redaktion von seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Auf den Bildern sind seine gefallenen Brüder Jakob und Josef und seine Schwester Katharina (links unten) zu sehen.
    2014 erzählte Konrad Golling unserer Redaktion von seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Auf den Bildern sind seine gefallenen Brüder Jakob und Josef und seine Schwester Katharina (links unten) zu sehen. Foto: Florian Rußler (Archivbild)

    Bei der Heimreise bekam jeder von uns eine Decke mit. Es war bitterkalt. Als wir endlich in Weilheim in den Zug einsteigen durften, war es schon finster. Im Waggon waren die Scheiben aus den Fensterrahmen. Durchgefroren bis auf die Knochen erreichten wir nach schier endloser Fahrt Augsburg-Hochzoll. Wir durften umsteigen nach Aichach in einen warmen, geheizten Zug. Dort schliefen wir alle sofort ein. In Aichach sollten wir im Sportheim übernachten. Es war aber schon besetzt. So musste jeder von uns 16 Buben zu einem zwei Jahre Älteren ins Bett schlüpfen.

    Nationalsozialismus in Bayern: Die Mutter reagiert mit Entsetzen auf das HJ-Lied

    Am anderen Tag machten der Eichner Ignaz und ich uns auf den Weg nach Hause. Am Milchwerk trafen wir einen Fahrer, der uns mitnahm, den Riemensperger Thomas. Er erzählte uns, dass er seit dem letzten Luftangriff auf Augsburg über Petersdorf nach Aichach fahren müsse. Eine Bombe hatte auf der Straße zwischen Haunswies und Igenhausen, etwa 100 Meter vom Weinberg weg, einen Krater gerissen. „Dort könnte man locker einen ganzen Keller reinstellen“, erklärte uns mein späterer Schwager.

    Schnell hatte mich der Alltag wieder, doch versehentlich sang ich einmal das Lied vom Sturmsoldaten. Meine Mutter stutzte, sah mich durchdringend an und sagte: „Ja, was lernen denn die euch für Lieder!?“ Ich hatte mir zu wenig Gedanken um den Inhalt gemacht. Ich glaubte, die Burschen in Bayersoien hätten halt ein wenig übertrieben.

    Das Eingangstor mit der Inschrift «Arbeit macht frei» ist an der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau zu sehen. Die Bedrohung dieses Ortes war in Haunswies früh zu spüren.
    Das Eingangstor mit der Inschrift «Arbeit macht frei» ist an der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau zu sehen. Die Bedrohung dieses Ortes war in Haunswies früh zu spüren. Foto: Sven Hoppe/dpa (Archivbild)

    Die entsetzten Worte meiner Mutter machten mich nachdenklich. Erst im Mai 1945 erfuhr die breite deutsche Öffentlichkeit, was wirklich geschehen war in Buchenwald, Auschwitz und in Dachau. Uns Haunswieser traf diese Erkenntnis nicht so ganz unvorbereitet wie manch andere Dörfer gleicher Größe. Wir hatten schon erfahren, dass keine leere Phrase gedroschen wurde, wenn es hieß: „Sei ruhig, sonst kommst du nach Dachau!“

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden