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„Autismus verstehen: Ein Brief an die Gesellschaft von der Lebenshilfe Aichach“

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Gefangen in Kopf und Körper: Was sich Menschen mit Autismus wünschen

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    Mit Hilfe der gestützten Kommunikation hat eine Gruppe der TASS einen Brief an die Gesellschaft verfasst.
    Mit Hilfe der gestützten Kommunikation hat eine Gruppe der TASS einen Brief an die Gesellschaft verfasst. Foto: Anja Fabian

    Oft werden sie von der Gesellschaft nicht für voll genommen. Dabei wünschen sie sich genau das sehnlichst: „Gute Leute, in mir schlummert so viel, was ihr nicht sehen könnt. Ich kann im Kopf ganz klar denken, aber es meistens nicht zeigen.“ Das ist ein Satz aus einem Brief an die Gesellschaft, den eine sechsköpfige Gruppe der TASS (Tagesstruktur für Menschen aus dem Autismusspektrum) von der Lebenshilfe in Aichach verfasst hat. Darin beschreiben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zwischen 25 und 49 Jahre alt sind, nicht nur ihre Gefühlswelt. Es geht ihnen auch darum, dass sie ein Teil der Gemeinschaft sein wollen. Bei einem Gespräch in der Redaktion erzählten sie von der Entstehung des Briefes, der intern in der Lebenshilfe verteilt wird.

    Die Idee zu diesem Projekt entstand beim Ratschtreff – eine lockere Runde mit Schützlingen der TASS, in der es um alle möglichen Themen geht. „Wir ratschen über sehr viele Dinge“, sagt Gruppenleiterin Lorena Beck. Wobei das „Ratschen“ in der TASS-Gruppe etwas anders abläuft. Durch ihren Autismus hätten die Betroffenen nicht immer die Möglichkeit, Gedanken in Worte zu fassen. Beck: „Wir haben viele Sprecher, aber auch viele Nicht-Sprecher oder solche, die nur ganz leise oder sehr wenig sprechen.“ Kommuniziert wird deshalb zum Beispiel mit der sogenannten FC-Tafel (Faciliated Communication, also Gestützte Kommunikation). Dabei deuten die Teilnehmer, an der Hand gestützt von einer TASS-Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter, in schneller Folge auf eine Buchstabentafel. Der Mitarbeiter schaut konzentriert zu und liest laut mit.

    Menschen mit Autismus wollen Vorurteilen begegnen

    Beck erklärt: „Die Tafel unterstützt jeden und gibt jedem eine Stimme.“ Die Teilnehmenden könnten auf diese Weise über ihre Worte und ihre Gefühle sprechen, ohne es auszusprechen.“ Weil es dabei auch richtig in die Tiefe gehen könne, seien sie neben der physischen auch eine psychische und emotionale Stütze, sagt die Gruppenleiterin. Auch die Worte, die in dem Brief an die Gesellschaft stehen, wurden über die FC-Tafel ausgedrückt.

    Verena Pettinger, Erzieherin im Anerkennungsjahr, erinnert sich, dass es im Ratschtreff zuerst um Vorurteile ging, die in der Gesellschaft herrschten. Wie zum Beispiel, dass Menschen mit Autismus keine Gefühle verstehen könnten. Dann war es um die Frage gegangen, was man tun könne, um diesen Vorurteilen entgegenzuwirken. Dabei sei die Idee zu dem Brief-Projekt entstanden. Damit könne man Außenstehenden vielleicht einen Einblick geben, wie Menschen aus dem Autismusspektrum im Inneren fühlen, war der Gedanke. „Das Projekt hat total Spaß gemacht“, sagt Pettinger.

    Die Verfasserinnen und Verfasser des gemeinsamen Briefes sind zwischen 25 und 49 Jahre alt. Darin steht zum Beispiel: „Ich möchte euch sagen mit diesem Brief, dass wir nicht nur besonders sind, sondern auch frei und zugleich gefangen im Kopf und im eigenen Körper.“ In ihrem Brief berichten sie von ihrer Gruppe und formulieren, was sie sich von der Gesellschaft und der Umgebung wünschen: „Seid mutig und traut euch zu uns heran! Ich bin nicht der mit dem lauten Lachen, sondern der mit dem großen Herz.“ Was die Gruppe sich auch wünscht: „Vergesst uns nicht, fragt uns und gebt uns einen freien Raum für unsere Eigenarten, aber bitte mit euch im selben Haus.“ Unterschrieben ist der Brief mit: „Eure Menschen, die viel fühlen und geben können, wenn man ihnen zuhört.“

    Ein Brief an die Gesellschaft

    Ihr lieben Menschen der Gesellschaft,

    Ich bin eine Autistin mit vielen Träumen.

    Ich will euch sagen, ihr seid hier unterwegs mit eurer guten Laune und guten Energie und das sehen wir, wenn wir mit euch kommunizieren und unterwegs sind.

    Wir sind eine Gruppe von Menschen, mit uns geht es nicht immer einfach zu. Wir sind laut und freudig, wenn ihr uns beachtet, und freuen uns über jeden Zwinkerer und ein Lächeln.

    Ich möchte euch sagen, mit diesem Brief, dass wir nicht nur besonders sind, sondern auch frei und zugleich gefangen im Kopf und im eigenen Körper. Ich sage euch, wir fühlen sehr viel und fügen uns der überaus lauten, bunten Welt.

    Über das möchte ich euch erzählen und mit der Gruppe berichten, wie sich das anfühlt und was wir uns wünschen – von euch, von der Gesellschaft und der Umgebung.

    Ratet mal, wer ich bin. Gute Leute, nicht von meiner Welt, ihr habt keine Ahnung.

    Ihr hüpft durch das gesellschaftliche Leben und geht uns manchmal aus dem Weg. Ich möchte, dass ihr wisst: Ich bin lustig und cool, freudig und mutig – das weiß jeder, der sich Zeit nimmt, mich kennenzulernen.

    Ich will sagen, dass wir alle ganz unterschiedliche Freuden und Innenleben haben und dass das uns auszeichnet. Der gerade Weg ist nicht mein Weg. Ich komme dann an, wenn ich bereit bin, und das sind dann Umwege.

    Ich bin ein guter Zuseher und hier der Ruhepol. Ich möchte, dass die Gesellschaft sieht: Ich bin da und nicht unsichtbar. Ich bin freundlich und aufmerksam, wenn man mir die Chance gibt.

    Gute Leute, in mir schlummert so viel, was ihr nicht sehen könnt. Ich kann im Kopf ganz klar denken, aber es meistens nicht zeigen. Ich bin ein Beobachter und verstehe alles, was um mich herum passiert.

    Seid ehrlich zu euch und zu uns. Ich spüre euch. Das mit der guten Angst verstehen wir gut, aber vor uns bitte nicht. Ihr Menschen könnt uns gerne ansprechen, wenn wir zum Beispiel beim Einkaufen sind.

    Für das Ganze hier bin ich sehr dankbar, und finde es schön, den Weg gemeinsam zu gehen.

    Ich sehe sehr viel Freude und gute Menschen, aber auch Unsicherheit, und das gute Briefergebnis soll euch sagen: Seid mutig und traut euch zu uns heran!

    Ich bin nicht der mit dem lauten Lachen, sondern der, mit dem großen Herz.

    Wir sagen Danke für den Versuch, heben euch Glück auf und geben es zurück.

    Vergesst uns nicht, fragt uns und gebt uns einen freien Raum für unsere Eigenarten, aber bitte mit euch im selben Haus.

    Ihr müsst das Ganze nicht verstehen, aber der Versuch gibt uns Kraft und Gutes im Herzen.

    Ihr seid wir und wir sind ihr. 

    Danke sagen wir für eure Zeit. 

    Eure Menschen, die viel fühlen und geben können, wenn man ihnen zuhört (TASS)

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