

Augsburg
Herr Miess muss raus
Studenten kamen und gingen. Edwin Miess blieb. Fast 30 Jahre lang war er Bewohner und Hausmeister im Wohnheim an der Lechbrücke. Jetzt muss auch er ausziehen und fragt sich: Kehre ich je wieder zurück?
Wenn Edwin Miess über das Gebäude spricht, das er so lieb gewonnen hat, dann sagt er erst mal: "Es ist hässlich. Ein Plattenbau wie im Osten. Eine Sünde der 70er-Jahre. Das Haus ist unfreundlich und verschandelt."
Seit fast 30 Jahren wohnt und arbeitet er in dem Betonklotz am Lech, gleich neben der Ulrichsbrücke. Im Studentenwohnheim, 64 Meter hoch, mit 255 Wohnungen, drei Waschmaschinen. Und er, Edwin Miess, ist der Hausmeister. "Ich bin der, der das Haus führt." Noch.
Miess muss nämlich raus. Alle müssen raus. Im Hochhaus leben rund 250 Studentinnen und Studenten. Und er. Menschen aus der ganzen Welt, Hunderte Leben auf jeweils 16 Quadratmetern. Nur er hat 70.
Ab April kocht hier niemand mehr indisch, unterhält sich niemand mehr auf Koreanisch, kommt niemand mehr in Miess' Büro und fragt: "Können Sie mir bitte helfen?"
Ab April wird es in Miess' Büro still sein, wie überall im Haus. Außer, die Handwerker sind gerade da und bohren und hämmern und schrauben. Ab April wird nämlich saniert. Neue Türen, Fenster, Böden, Bäder. Weil zu viel Energie ungenutzt verpufft und überhaupt: Das Haus am Lech steht nicht mehr für die Aufbruchsstimmung, die sich in den 1970er-Jahren mit der neuen Universität breitmachte. Heute steht es eher für Abbruch.
Miess steht stellvertretend für die Geschichte des Wohnheims. Studenten kamen und gingen, aber Miess war immer da. Jahrzehntelang. Bis heute.

Das Wohnheim am Lech ist ein Haus mit dreieckigem Grundriss, in dem so manch einer die Orientierung verliert, weil alles gleich aussieht: kahle Gänge, blaue Türen, Kunststoffboden genoppt, Zahlen statt Namensschildern an den Türen. 0405 oder 1806 steht da, nicht Gonzalez, Kim oder Zhang.
"Wenn Sie auf einem Stockwerk waren, waren sie auf allen", sagt Miess über Augsburgs höchstes und ältestes Studentenwohnheim.
Miess war wirklich auf allen. Er erlebte, wie Feuerlöscher und Bierflaschen vom Dach flogen, wie jemand einen Hydranten aufdrehte und das Treppenhaus überflutete, Klos verstopft und Türen defekt waren, aber auch, wie Menschen in seinem kleinen Büro haltmachten und sagten: "Danke, Herr Miess."
"Sie werden nicht als Hausmeister geboren."
An einem Mittwochvormittag steht er wieder im Büro, einem mit Unterlagen und Ordnern und Visitenkarten gefüllten Räumchen. Die Tür steht offen, im Hausflur läuft "Tell Me Why" von den Backstreet Boys. Ein Bewohner kommt vorbei, sagt, sein Rauchmelder piepse seit Tagen. Der Postbote bittet um eine aktuelle Liste mit den Namen der Bewohner. Eine Frau will ausziehen, Miess vereinbart einen Termin mit ihr.
"Ich mag es, Hausmeister zu sein", sagt er. Und jetzt muss er raus aus seiner Wohnung, raus aus seinem Büro. Dabei schätzt er die Nähe zur Stadt, den Lech, die Gespräche mit den Studenten. "Das liegt mir schon im Magen", sagt er. "So kurz vor der Rente."

Dass er überhaupt so lange blieb! Er, der als Siebenbürger Sachse, einer deutschsprachigen Minderheit, in Rumänien aufwuchs. Der Flugzeugbauer lernte, dem die Arbeit in der Fabrik aber nicht gefiel. Der 1985 nach Augsburg kam, erst nach München pendelte, dann eine Annonce in der Augsburger Allgemeinen las: "Hausmeister gesucht für sechs Monate." Dessen Job dreimal befristet wurde und der nun schon sein halbes Leben im Wohnheim verbracht hat.
"Sie werden nicht als Hausmeister geboren", sagt Miess. 1993 fing er an, es zu werden. Damals, als Postleitzahlen in Deutschland fünfstellig wurden und Bill Clinton US-Präsident. Als der FC Augsburg noch in der drittklassigen Bayernliga spielte und Roy Black noch nicht lange tot war.
"Es hält mich auf Trab."
Miess traf im Wohnheim auf einen "Sauhaufen von Leuten", der Matratzenpartys schmiss, wo Fluchtwege frei bleiben sollten. Der im Haus trank und rauchte. Miess wollte "für Zucht und Ordnung sorgen", manch einer soll deswegen gesagt haben: "Der Hausmeister macht seinem Namen alle Ehre."
Es dauerte, bis Miess seine Rolle fand oder wie er es nennt: die goldene Mitte.
Einmal, so erzählt er, habe er den Hausmeister einer Schule beobachtet, wie er den Schülern die Tür aufhielt. Eine nette Geste, die sich Miess zum Vorbild nahm. Er hielt anderen dann auch die Tür auf. Ein Bier mit den Studenten zu trinken, das würde er hingegen nie machen, sagt er. Ein bisschen Distanz muss schon sein. Die goldene Mitte eben.

Hält es ihn jung, jeden Tag von 20-Jährigen umgeben zu sein? "Es hält mich auf Trab."
Einmal klagte ein Bewohner, es käme seit Tagen kein Wasser aus dem Duschkopf. Dabei war der Schlauch verdreht, sodass ein Knick das Wasser stoppte. Miess verduzt: "Das ist doch kein Telefonkabel!"
Ein anderer vergaß mehrfach seinen Haustürschlüssel, einen weiteren wies Miess darauf hin, dass die Kühlfachtür nur schließe, wenn kein Eis sie blockiert. Arbeitszeit, die er sich gerne gespart hätte.
"Ich bin immer ein bisschen im Dienst."
"Die meinen immer, du bist die Nanny", sagt Miess. Sei er aber nicht. Sondern? "Die Wohnungen müssen funktionieren. Und man muss die Leute zufriedenstellen. Das ist mein Job." Einer, in dem es keinen Feierabend gibt.
"Ich bin immer ein bisschen im Dienst", sagt er. Weil er hier nicht nur arbeitet, sondern auch wohnt. Auf 70 Quadratmetern, zwischen Musikinstrumenten und Zimmerpflanzen und bunten Tischdecken. Und mit Lechblick. Selbst als an einem Sonntag sein Sohn getauft werden sollte, stand er vor der Entscheidung: Job oder Familie? Um den Wasserrohrbruch im Haus musste sich der Notdienst kümmern. Miess entschied sich für seine Familie.

Familie ist beständiger, im Hochhaus ist alles in Bewegung. "Die meisten bleiben nur noch ein halbes Jahr da", sagt er. "Bis sich Leute ans Haus gewöhnen, ziehen sie schon wieder aus." Da mag niemand mehr Zeit vertrödeln und Stockwerkspartys organisieren. Früher gab's die ständig. "Gefühlt jeden Tag", sagt Miess.
Er beobachtet einen "Trend zum Individualismus". Wahrscheinlich liege es an Internet und Smartphone, mutmaßt er. Wenn sich doch mal Bewohner treffen, dann meist diejenigen, die Herkunft und Sprache miteinander teilen. Südkoreanerinnen mit Südkoreanern, Inder mit Inderinnen. "Aus dem europäischen Raum verirrt sich kaum jemand her", sagt Miess.
Was bleibt? "Nichts".
Gemeinsam haben sie, dass alle ausziehen müssen. Das Studentenwerk, das das Wohnheim betreibt, nennt das einen "kalkulierten Verlust von Wohnplatz". Weil das Auszugsdatum schon lange bekannt sei. Weil Wohnungen zuletzt ohnehin nur noch an Leute vergeben wurden, die das Studium beenden. Trotzdem: 255 Wohnungen weniger, das wird sich in den kommenden zwei Jahren bemerkbar machen. Obwohl doch überall gebaggert und gebaut wurde und wird, im Hochfeld, in Kriegshaber oder, speziell für Studierende, im Univiertel.
Auch Miess musste suchen. Er fand eine Wohnung in Göggingen und wird im dortigen Studentenwohnheim arbeiten, während an der Lechhauser Straße Handwerker damit beschäftigt sein werden, ein halbes Jahrhundert Geschichte zu entrümpeln und übermalen. Miess wird nicht im Wohnheim leben, er wird sich zum ersten Mal nach drei Jahrzehnten auf einen Arbeitsweg machen, und wenn er abends zu Hause ankommt, macht er die Türe hinter sich zu und hat Feierabend. Wenn niemand anruft.

Aber er ist wehmütig. Im März muss er seine Sachen packen. Spätestens. Er nimmt dann seine Ziehharmonika mit, auf der er volkstümliche Lieder spielt. Und die Gitarre, das Klavier, das Liederbuch "Von Bayern bis Tirol". Er packt die Möbel aus Indien ein, deren gemasertes Holz er so schön findet. Und die Pflanzen in ihren bunten Töpfen, die am Fenster stehen. Er räumt das Büro aus, nimmt die Bilder vom Schrank ab, die ihm seine Kinder gemalt haben, als sie noch klein waren. Ein Baum, eine Sonne, ein Hochhaus, gemalt mit Bunt- und Wachsmalstiften und auf einem steht: "Ist mein Papa in der Nähe, ist die Welt nicht trüb."
Noch zwei Monate. Dann muss alles raus sein.
Was bleibt denn noch von ihm? "Nichts." Sogar die Gartenhütte, die er sich vors Hochhaus gestellt hat, kommt weg. Manchmal hat er dort gegrillt, es war seine "Wohlfühlecke". Jetzt kommt dort wohl ein Parkplatz hin.
Aber immerhin: Vielleicht kommt er ja zurück. In zwei, drei Jahren, nach der Sanierung. In ein Gebäude, dem niemand mehr seine Geschichte ansehen wird. Ob's so kommt, weiß er nicht. "Aber den Wunsch hab ich."
