Nicht nur Hip-Hop und Volksmusik von Türkeistämmigen, auch türkische Chorkonzerte haben sich in der Region etabliert. Meist jenseits der deutschen Öffentlichkeit erinnern sie an die Blütezeit osmanischer Hofkultur. Zum Beispiel der „Fasl“-Abend des Ocatave-Chors im Restaurant Royal am See in Friedberg: Treibende Rhythmen, ein Unisono-Chor auf der Bühne und – typisch für das Fasl-Format – weiß gedeckte Tische, Oliven, Schafskäse und Raki.
Im Gegensatz zu klassischen westlichen Chorauftritten gibt es kein rund 90 minütiges Standardprogramm, auch Pausen zwischen Sätzen, andächtiges Lauschen und Stillsitzen sind nicht vorgesehen. Bei Octave, dem dritten Augsburger Chor für klassische türkische Musik, trifft sich die deutschtürkische Mittelschicht. Es wird gelacht, geredet, geklatscht und mitgesungen. Etwa 140 Gäste begrüßte Chorleiter Öztürk Sahin. Nach dem Essen präsentierte er ein vierstündiges Querbeet-Programme, ein Marathon mit 60 pausenlos aneinandergereihten Liedern und Improvisationen. Begleitet wurden die 25 Sänger und Sängerinnen von vier Perkussionisten, Piano, Geige, Klarinette, Ud (Kurzhalslaute) und Kanun (Zither).
Während der 25-köpfige Chor aus Augsburgern besteht, wurden Geige, Darbuka (Percussion), eine Kanun und das Piano von vier extra eingeflogenen Profis des Staatsorchesters Izmir gespielt. Sie besorgten insbesondere die komplizierte Rhythmik auf hohem Niveau. Fünf weitere Musiker kamen aus München. Sie hatten an der dort von Sahin geleiteten Musikschule gelernt. Nur Klarinettist Emir Erol, der bei dem Bobinger Franz Bader lernt, stammt aus der Region.
Es geht immer um die Liebe
Inhaltlich lässt sich das Repertoire schnell auf einen Nenner bringen: „Es geht immer um die unerreichte Liebe“, erklärt Dirigent Sahin lachend. Ist sie erfüllt, schwinde die Kreativität und niemand schriebe mehr Lieder. Schon die Titel wie „Liebe mich, umarme meine Seele“, aber auch selbstironische Songs wie „Lebwohl, ich kann kein Wirt mehr sein“ über einen, der wegen der Liebe den Alkoholrausch verlernt, verraten viel Emotion, liefern gleichzeitig aber einen Rhythmus, der in die Knochen fährt. Das Solo von Zekiye Akgün als arbeitsunfähiger Wirt begeisterte das Publikum. Auch die temporeichen Soli von Özkan Övek (Geige) und seinen Izmirer Kollegen ernteten viel Beifall.
Klassische türkische Musik ist auch unter den Namen Kunstmusik oder „Palastmusik“ bekannt. Ihre vom Lehrer auf die Schüler tradierten Wurzeln sind bis ins 14. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Im Gegensatz zur Volksmusik gilt sie als Welt der osmanischen Eliten. Doch wie diese bürstet sie alle westlichen Hörgewohnheiten gegen den Strich. Tontemperierung, Dur und Moll, der Kammerton – das Gerüst des westlichen Tonsystems ist hier vollkommen aufgehoben.
Die Rhythmik ist komplex
Den charakteristischen Sound geben die Abstände zwischen zwei Tönen. Sie sind statt in Zweier-, in Neunerschritten unterteilt. Dadurch umfasst die Oktave nicht 12, sondern insgesamt 36 Töne. Und statt den gemeinhin gebräuchlichen 24 Dur- und Molltonarten kennt die türkische Musik 590 verschiedene Tonskalen. Auch die Rhythmik ist komplex: 79 Taktarten stehen im türkischen System zur Verfügung. Irritierend sind vor allem die Sieben-, Fünf- oder Neun-Vierteltakte. Erst vor 100 Jahren wurde die klassische türkische Musik in einem an europäische Standards angelehnten Notenkorsett systematisiert. Neben Kreuzchen und B’s gibt es auch Vorzeichen für die Neunteltöne.
Chorleiter Sahin Öztürk stammt aus der Türkei, lernte in verschiedenen Landesteilen Saz und Kanun. Mit 19 Jahren kam er nach Deutschland und arbeitet heute in der Finanzabteilung von Nokia. Auch in Deutschland erhielt er über Jahre Privatunterricht von namhaften Musikern. Er gründete mehrere Chöre und gilt heute in Süddeutschland als einer der Pioniere für die klassische türkische Musik.
Am 8. Dezember um 17 Uhr ist der 2016 gegründete Genclik ve Cocuk Korosu (Kinder- und Jugendchor) im Rokokosaal im Fronhof zu hören.