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„Gesänge vom Überleben“: Ein Stück über NS-Zwangsarbeit in Augsburg und Schwaben

Staatstheater Augsburg

Gegen das Verdrängen und Vergessen: „Gesänge vom Überleben“ - eine Uraufführung am Staatstheater Augsburg

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    "Gesänge vom Überleben": Auf der Augsburger Brechtbühne inszeniert Nicole Schneiderbauer die Uraufführung am 5. Juli.
    "Gesänge vom Überleben": Auf der Augsburger Brechtbühne inszeniert Nicole Schneiderbauer die Uraufführung am 5. Juli. Foto: Jan-Pieter Fuhr/Staatstheater Augsburg

    „Jakob Bamberger hat nie aufgehört zu boxen.“ Das sagt die Schriftstellerin Tine Rahel Völcker und Respekt schwingt mit, wenn sie vom Leben des Sportlers erzählt. Jakob Bamberger, geboren 1913 in Ostpreußen, Sohn eines Pferdehändlers. Mit 20 Jahren steigt der Junge in den Boxring, zeigt großes Talent mit den Fäusten, 1934 steigt er sogar auf in die deutsche Kernmannschaft für Olympia. Aber Bamberger stammt aus einer Familie von Sinti. Aus einer geächteten, gejagten Volksgruppe. Der Boxer will noch fliehen, doch Nazis deportieren ihn in das KZ Dachau. Sie prügeln ihn zur Zwangsarbeit. KZ-Ärzte nehmen ihn zum Opfer für Versuche, malträtierten ihn mit Meerwasser als Trinkwasser. Sein Leidensweg führt bis ins KZ Buchenwald – wo er 1945 den Tag der Befreiung erlebt.

    Tine Rahel Völcker hat sich vertieft in diese Biografie. „Er hat sein Leben lang einen vergeblichen Kampf um Entschädigung, um Wiedergutmachung gekämpft. Und sogar im Altenheim hat er noch geboxt.“ Das habe ihr Bambergers Neffe erzählt. Er ist einer von vielen Nachgeborenen, Angehörigen, Zeugen, mit denen die Berliner Autorin gesprochen hat. Denn wahre Zeit- und Lebensgeschichten wie diese hat sie jetzt zu einem Theaterstück verknüpft: „Gesänge vom Überleben“, über die vergessenen, verdrängten Schicksale der NS-Zwangsarbeit. Dabei vor allem: Schicksale aus Augsburg und der Region Schwaben. Das Staatstheater Augsburg bringt das Stück am 5. Juli zur Uraufführung, auf der Brechtbühne.

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    Halle 116 in Augsburg – hier, wo sie einst Zwangsarbeiter einpferchten, wo Gefangene für die Messerschmitt-Werke unmenschliche Arbeit leisten mussten, etwa 4.000 Menschen aus 20 Nationen bis zum Ende des Krieges, hier steht heute eine Gedenkstätte. Und hier ist Völcker auf seine Geschichte gestoßen. Denn hier musste auch Bamberger für einige Monate gegen seinen Willen leben, arbeiten, leiden. Vermerk: „Aso“ für „Asozialer“. Für Völcker stand sofort fest: Dieser Mann muss ein Teil ihres Stücks werden. Vor allem auch, weil die Gruppe der Sinti Verfolgung und Stigmatisierung erlebte und bis heute erlebt, „bis in die Gegenwart“. Völcker sagt: „Es ist an der Zeit, diesen Geschichten Raum zu geben.“

    Völcker, geboren 1979 in West-Berlin, ist eine Sammlerin von Lebensgeschichten. In ihren Werken nimmt sie wahre Biografien und verwandelt sie in Theater, oft sind es Schicksale aus der NS-Zeit. Ihre erste Uraufführung am Staatstheater Augsburg hieß „Frauen der Unterwelt“, eine Collage von sieben kraftvollen Frauen, die als Opfer der sogenannten NS-Krankenmorde lange verschwiegen wurden. Völckers neues Bühnenstück hat sie mit Nicole Schneiderbauer entwickelt, der leitenden Regisseurin am Staatstheater. Ihre ersten Quellen waren Zeugnisse von Überlebenden. Da ist zum Beispiel Ivan Hacker: In den 1950er Jahren kam der Jurist zurück nach Kaufering, wo er Zwangsarbeit leistete. Er will Zeugnis ablegen, aber wo das KZ stand, ist nun nur eine Kleingartenkolonie. Und alle Einheimischen, auf die er trifft, leugnen ab, was war. „Die Abwehr ist so groß, weil es jede Familie betrifft“, sagt Völcker. Weil so viele selbst Täter waren. Oder Mitwisser. Oder zumindest etwas gewusst, etwas gesehen haben in ihrem Heimatort.

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    Völcker recherchierte in die Tiefe. Sie sprach mit Marcella Reinhardt vom Regionalverband der Sinti und Roma Schwaben. Die Bürgerintiative Pfersee half ihr mit Zeitdokumenten. In der Sammlung des Journalisten Gernot Römer fand die Autorin Lebensprotokolle und auch Zeugnisse von Hass und Widerstand gegen jede Aufklärung: Der einstige Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen, der selbst solche Lebensgeschichten sammelte, erhielt wütende Briefe, erlebte Drohungen gegen seine Erinnerungsarbeit. „Und zwar besonders auch gegen seine Forschung zur Zwangsarbeit“, weiß Völcker. Auch mit Bernhard Lehmann tauschte sie sich aus. Der Lehrer organisierte, gegen Widerstände, ein Erinnerungsprojekt am Paul-Klee-Gymnasiums Gersthofen. Lehmann besuchte 2006 in der Ukraine einige Überlebende, die Zwangsarbeit in Augsburg verrichteten, und befragte sie. Er ist im Stück der „Lehrer L.“.

    So viele Geschichten, so viele Erfahrungsberichte, so viel Verdrängtes. Die Täter und Mitwisser? Werden in dieser Inszenierung als einheimische Gartenzwerge erscheinen und von rein gar nichts mehr wissen. „Da goabs koa Loger“, sprechen die Wichte im Dialekt. „Wo koa Loager nimmer woar, do kinns o koins gebn homm“, denn das Schlimme war doch nur in Auschwitz, in Bergen-Belsen und nicht vor unserer Tür. Oder? Einerseits sollen diese Zwerge in Völckers Stück für das Vorgarten-Idyll der Verdrängung stehen, für „diese schreckliche Normalität, sie haben nichts Dämonisches an sich hat“. Andererseits möchte die Autorin auch die Menschheit „in ihrer erbärmlichen Kleinherzigkeit ausleuchten“.

    Aber nicht die Täter sollen im Mittelpunkt es Stücks stehen, sondern die Menschen, die unter Zwangsarbeit litten. Sie sei dankbar für die Gespräche mit Familien, Angehörigen, Nachgeborenen, „Menschen, denen ich begegnen durfte.“ Auch wenn es Geschichten vom Überleben sind, steht für sie fest: „Die Schönheit überwiegt am Ende, so wie diese Menschen mit Leid umgehen konnten, wie sie es verwandeln in etwas Neues, Gutes. Und das sehe ich als einen Auftrag.“ Die Erinnerung will Tine Rahel Völcker wachhalten - und gegen das Vergessen, Verdrängen in der Gegenwart ein neues Theaterstück setzen.

    Info: „Gesänge vom Überleben“. Uraufführung am Samstag, 5. Juli, um 19.30 Uhr auf der Brechtbühne im Gaswerk. Infos unter www.staatstheater-augsburg.de.

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