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40 Jahre Schengen - und jetzt wieder Grenzkontrollen: Ist der Traum geplatzt?

Europa

40 Jahre Schengen und jetzt wieder Grenzkontrollen: Ist der Traum geplatzt?

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    Ein Beamter der Bundespolizei am deutsch-polnischen Grenzübergang Stadtbrücke. Die Bundesregierung hält trotz eines Gerichtsentscheids und deutlicher Kritik an ihrem verschärften Kurs in der Migrationspolitik fest.
    Ein Beamter der Bundespolizei am deutsch-polnischen Grenzübergang Stadtbrücke. Die Bundesregierung hält trotz eines Gerichtsentscheids und deutlicher Kritik an ihrem verschärften Kurs in der Migrationspolitik fest. Foto: Patrick Pleul/dpa

    Oben am Brenner, wo Italien beginnt, es schon irgendwie nach Süden riecht, oben am Brenner also, da standen sie damals, die vielen Lastwagen auf dem Weg nach Milano oder Modena. Stundenlang, manchmal Tage. Klaus Finsterwalder weiß das nur zu gut. „Das war ein Geduldsspiel“, sagt der geschäftsführende Gesellschafter des gleichnamigen Transport- und Logistikunternehmens. Finsterwalder sitzt in einem schlichten Konferenzraum, langer Tisch, grauer Boden, Glasfront, durch die man hineinschaut in eine 20.000 Quadratmeter messende Lagerhalle des Unternehmens in Türkheim im Unterallgäu. Finsterwalder faltet die Hände vor sich auf der hellen Tischplatte, dann erzählt er die Geschichte eines Zahlendrehers, die, wenn man so will, ein bisschen symptomatisch dafür ist, wie fürchterlich kompliziert das damals alles war. Damals an den Grenzen.

    Die Geschichte geht so: Weil es einen Fehler in der Zolltarifnummer gibt, darf der Fahrer eines Finsterwalder-Lastwagens nicht über den Brennerpass nach Italien fahren, er sitzt fest, vier Tage lang. Digitalisierte Dokumente, per Mausklick über den Globus gejagt, gibt es damals nicht, die Papiere, oft hunderte Seiten pro Lastwagen, müssen für den Grenzübertritt im Original vorliegen. Also setzt sich Finsterwalder ins Auto und fährt die knapp 200 Kilometer aus dem Allgäu zur italienischen Grenze, hinauf zum Brennerpass, bringt die Zettel mit der richtigen Nummer vorbei und fährt wieder zurück. Heute undenkbar.

    Den Schengenraum gibt es nun seit 40 Jahren

    Seit 40 Jahren gibt es nun den Schengenraum. Der große Traum begann bemerkenswert provinziell auf dem Ausflugsdampfer Princesse Marie-Astrid. Im kleinen Rahmen und ohne Prunk und Pomp, dafür mit viel Symbolik im Dreiländereck – so unterzeichneten auf der idyllischen Mosel in der Nähe des Winzerdorfs Schengen an jenem 14. Juni 1985 fünf Staatssekretäre aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg das Abkommen. 33 Artikel sind da aufgelistet, die auf „den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ abzielen, wie es heißt. Die Urkunde trägt das große Versprechen der Europäischen Union in sich: ein grenzenloses Europa. Freiheit.

    Was als politische Erklärung zur Abschaffung der Grenzkontrollen begann, hat sich zum Rückgrat der europäischen Integration entwickelt und das Leben, Arbeiten und Reisen von knapp 420 Millionen Menschen in mittlerweile 29 Ländern verändert. Neben 25 EU-Mitgliedstaaten sind auch die Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island beim freien Waren- und Personenverkehr dabei.

    Früher standen die Lastwagen oft lange an der Grenze

    Bei der Spedition Finsterwalder in Türkheim war das Abkommen von Schengen eine 180-Grad-Wende. „Man ist plötzlich einfach durchgefahren“, sagt Klaus Finsterwalder und lächelt. 250 Lastwagen hat das Unternehmen, pro Tag werden etwa 1000 Ladungen bewegt. „Diese Warenwirtschaft, die wir heute haben, wäre ohne Schengen undenkbar“, sagt er. In den Finsterwalder-Lagerhallen gibt es etwa 500.000 Euro-Palettenstellplätze, Lebensmittel lagern da ebenso wie Kunststoffprodukte, Papier oder Verpackungen.

    Klaus und Michael Finsterwalder sagen: Die Warenwirtschaft von heute wäre ohne Schengen undenkbar.
    Klaus und Michael Finsterwalder sagen: Die Warenwirtschaft von heute wäre ohne Schengen undenkbar. Foto: Stephanie Sartor

    Die Lastwagen fahren quer durch ganz Europa und bis nach Nordafrika. „Dass das alles so einfach funktioniert, ist heute selbstverständlich“, sagt Finsterwalder. Früher sei das so gewesen: Wer mit seinem Lastwagen durch drei Länder fuhr, der brauchte drei verschiedene Einfuhr- bzw. Transitgenehmigungen, die Lkw mussten von jedem Zollamt abgenommen werden, wurden verplombt, geprüft und schließlich freigegeben. „Und wenn das Zollamt sagte, dass sie jetzt Feierabend machen, dann mussten die Lastwagen eben über Nacht im Zollhof bleiben. Es war immer sehr unklar, wann eine Ladung ihr Ziel erreichen würde“, sagt Finsterwalder. „Mobiltelefone gab es nicht, wenn sich der Fahrer nicht per Münzapparat meldete, wusste man überhaupt nicht, wo er ist.“

    Brunner: „Glühenderer Europäer“ dank Schengen

    Vom Allgäu auf die Bühne der Europapolitik. Magnus Brunner wirkt kurz nachdenklich, wenn er an seine Jugend zurückdenkt. Der EU-Migrationskommissar ist am Bodensee im beschaulichen Höchst in Vorarlberg aufgewachsen und damit an der Schengen-Außengrenze zur Schweiz, bevor die Eidgenossen dem gemeinsamen Raum 2008 beitraten. Nur der Rhein trennt Höchst und das benachbarte St. Margrethen, trotzdem schienen die Orte für die jeweiligen Bewohner fern und fremd. Zöllner im Zug, Schlagbäume, Grenzkontrollen, Staus – „Wir haben jeden Tag gespürt, was das für eine Mauer ist“, sagt Brunner. Ob der Österreicher mit dem Schweizer Kumpel in dessen Club Tennis spielen oder mit den Eltern im Ausland um die Ecke Kaffee trinken gehen wollte, seinen Pass trug der Teenager stets in der Tasche mit sich. Und die Erfahrung hat ihn geprägt. „Ich sehe die Vorteile von Schengen, weil wir auch die Nachteile erlebt haben.“ 

    Schengen habe ihn zu „einem glühenderen Europäer“ gemacht, sagt Brunner. Doch „eine der besten Errungenschaften“ der Gemeinschaft, das Herz der Union, wenn man so will, setzt seit einiger Zeit immer wieder aus. 

    Das Schengen-System ist mehr als angekratzt

    Migration, Anschläge, Sicherheitsbedenken – das System ist mehr als angekratzt. Während der Corona-Pandemie etwa schlossen etliche Mitgliedstaaten ihre Grenzen und sorgten dafür, dass einige Bürger überhaupt zum ersten Mal von Schengen erfuhren. Zu normal ist dieser Tage das grenzenlose Reisen. Europa sei für viele der jungen Leute heute „wie ein Baum“. So nennt es Brunner. „Der steht halt da.“ Dabei empfindet der Österreicher es als „wichtig“, Europas Vorteile nicht als „selbstverständlich“ anzusehen. 

    Doch selbst Gründungsmitglieder Schengens wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande konter­karieren das Kernversprechen regelmäßig, dieser Tage mit dem Ziel, die illegale Migration einzudämmen. Ist der Traum in Wirklichkeit schon Geschichte?

    Schengen ähnelt einer Dauerbaustelle

    Zu scharfer Kritik an den nationalen Alleingängen lässt sich der EU-Migrationskommissar nicht hinreißen. „Ich arbeite daran, dass wir von den Binnengrenzkontrollen wieder wegkommen“, sagt Brunner vielmehr. Und: Er habe auch „Verständnis für manche Mitgliedstaaten, die sich unter Druck fühlen“. Nur müssten sich die Regierungen „natürlich“ an die rechtlichen Voraussetzungen halten. Der Schengener Grenzkodex erlaubt Kontrollen im Ausnahmefall und zeitlich begrenzt. Doch zur Wahrheit gehört, dass die Regierungen die Regeln nicht nur häufig ausreizen, sondern sie auch gerne überziehen, ohne dass die Brüsseler Behörde bislang Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hätte. 

    Und so ähnelt Schengen zunehmend einer Dauerbaustelle. Brunner will es lieber als „Konzept“ bezeichnen, das man ständig weiterentwickeln müsse. Es liege an den Mitgliedstaaten, „ihre Hausaufgaben“ zu machen und die Reform des im vergangenen Jahr beschlossenen Migrationssystems umzusetzen. Dann soll der Außengrenzschutz besser funktionieren und das System digitaler werden, so Brunner. „Wir wissen dann: Wer ist in Europa und wer verlässt den Schengenraum?“ Bis Juni 2026 haben die Länder Zeit, den neuen gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspakt umzusetzen – und damit in gewisser Weise auch Schengen zu retten.

    Strengere Kontrollen an den deutschen Grenzen

    Seit Anfang Mai gibt es an den deutschen Grenzen verschärfte Kontrollen. Deutschland habe eine hohe Magnetwirkung auf die illegale Migration, die Zahlen müssten runter, argumentiert Bundesinnenminister Alexander Dobrindt. Kritiker forderten, Dobrindt möge wieder zu den Schengen-Grundsätzen zurückkehren - bisher aber bleibt der Minister hart. Und diese Strenge hat auch Auswirkungen auf den Warenverkehr.

    Zurück in Türkheim. Neben Klaus Finsterwalder nimmt sein Sohn Michael Platz, der Geschäftsführer des Logistikunternehmens. „Als Spedition sagen wir: Jede zusätzliche Grenzkontrolle verlängert die Zeit“, erklärt er. Man plane jetzt ein bisschen vorsichtiger, informiere die Auftraggeber, dass es zu Verzögerungen kommen könne. „Denn man merkt es ja schon, dass die Wartezeiten an den Grenzen länger geworden sind.“ Und dieses Warten sei natürlich Arbeitszeit - wird die maximal erlaubte Zeit am Steuer dadurch überschritten, muss der Lastwagen abgestellt werden. Bis er dann endlich am Ziel ankommt, dauert es also noch länger. In einem Europa, wo es an den Grenzen wieder Kontrollen gibt.

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    3 Kommentare
    Franz Xanter

    Man muss sich eingestehen, dass die derzeitigen äußeren Umstände es nicht erlauben, offene Grenzen zu haben. Die Problematik der ungehinderten Zuwanderung und nicht kontrollierten Einwanderung bzw. Asylgewährung stellt dies alles auf den Kopf. Da die Mitgliedsstaaten der EU weder willens noch in der Lage sind, diese Thematik zufriedenstellend zu lösen - Schutz der Außengrenzen - bleibt den Mitgliedsstaaten keine andere Möglichkeit, als ihre Grenzen wieder zu schützen. Das eigene Überleben der Einzelstaaten ist sicherlich höher anzusetzen als irgendwelche Reisefreizügigkeiten, welche letztlich durch Selbstverschulden ausgehebelt wurden.

    Jochen Hoeflein

    Es stellt sich doch die Frage in welchem Umfang die Grenzkontrollen zu den Nachbarländern bestehen sollen. Unabhängig von der Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit der Massnahme wird bei ständiger halbjährlicher Verlängerung wie im Fall zu Österreich das Schengen Abkommen praktisch ausgehebelt. Zu Österreich wird jetzt auch auf Bundesstrassenübergängen kontrolliert wie zu Zeiten vor dem EU Beitritt des Landes. Grund ist doch, dass die EU nicht in de r Lage die Aussengrenzen dicht zu machen. Und insb. DEU im Vergleich zu den Nachbarländern zu viele finanzielle Anreize für Zuwanderer bietet.

    Wolfgang Boeldt

    Das beste Abkommen nützt nicht, wenn es zu viele Gründe gibt, dieses auszusetzen oder zumindest zeitlich auszusetzen. Man kann den Eindruck bekommen (vielleicht ist es nur ein Eindruck), daß bei den meisten betroffenen Grenzen die freie Fahrt mehr eingeschränkt als schengenmäßig offen waren. Konsequenz: canceln

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