Das Rätsel Mensch
Thomas S. lächelt, scherzt und posiert geradezu, als er den Gerichtssaal betritt. Und das Publikum fragt sich: Was ist das für ein Mann?
Dieses Bild brennt sich ein. An die Wand im Schwurgerichtssaal 101 werden Fotos einer Spezialkamera geworfen, die Blutspritzer am Tatort sichtbar machen. Das Blut war überall. Blut an den Wänden, Blut an den Türen, Blut an Mänteln und Kinderjacken in der Garderobe, Blut an den Kinderbetten und Blut an einem verbogenen Küchenmesser. Unterhalb dieser Fotos sitzt der Angeklagte Thomas S. und lächelt. Im Saal herrscht bleierne Stille.
Was für ein Mensch ist das? Dem Postboten wird ein entsetzliches Verbrechen vorgeworfen. Er soll im März vergangenen Jahres im Münchner Vorort Krailling seine Nichten Chiara und Sharon auf bestialische Weise ermordet haben. Aber beim Prozessauftakt am Landgericht München wirkt Thomas S. entspannt, ja selbstgefällig. Der 51-Jährige ist gegenüber den Polizeifotos kaum wiederzuerkennen. Der struppige Bart ist ab, die Haare sind kurz, S. hat in der Untersuchungshaft in Stadelheim einige Kilo abgenommen. Als er in einer hellen Jeanshose und grauem Pullover in den Saal geführt wird und sich Dutzende Kameras und Fotoapparate auf ihn richten, lässt er sich bereitwillig ablichten. Er versucht, mit einem Wachtmeister zu scherzen. Er posiert geradezu. Er zeigt irritierende Fröhlichkeit. Fast scheint es, als genösse er seinen Auftritt.
Was für ein Mensch ist das? Das fragen sich auch die Zuschauer, die zu Hunderten ins Gericht gekommen sind. Wegen des Ansturms beginnt der Prozess eine halbe Stunde später, um 10 Uhr. Eine ältere Frau aus Krailling sagt, sie wolle diesem Mann ins Gesicht schauen. So oder ähnlich äußern sich viele Beobachter. Es ist eine Mischung aus Entsetzen, Neugier, Sensationslust und Ekel, die sie hierher gebracht hat.
Abitur. Hochzeit. Zwei Kinder. Scheidung. Noch vier Kinder
Was für ein Mensch ist das? Die Fakten: Thomas Heinrich S. ist am 28. November 1960 in München geboren. Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Mehrere Studiengänge begonnen, keinen abgeschlossen. Arbeit als Feinmechaniker. Heiratete. Zwei Kinder. Ließ sich scheiden. Wegen eines Unterhaltsstreits gab er seinen gut bezahlten Job als Feinmechaniker auf, um weniger Unterhalt zahlen zu müssen. Wurde Postbote. Heiratete wieder. Noch vier Kinder. Baute ein Haus in Peißenberg im Kreis Weilheim-Schongau. Soweit keine Besonderheiten.
Doch die Staatsanwaltschaft zeichnet das Bild eines eiskalten Killers. Das Motiv für den Doppelmord an den Mädchen soll die drohende Zwangsversteigerung des Hauses in Peißenberg gewesen sein. Die Familie hatte existenzielle Geldnot. Sie war im Frühjahr 2010 in das neue Haus eingezogen, obwohl es noch keinen Wasseranschluss und keine Bodenbeläge gab. Nachbarn und die Feuerwehr halfen, das Haus fertig zu bauen. Thomas S. hatte mehrfach darauf gedrungen, dass seine Schwägerin die gemeinsame Eigentumswohnung ganz übernimmt und dafür 50000 Euro zahlt. Doch sie wollte nicht.
So soll Thomas S. einen teuflischen Plan ausgeheckt haben. Er wollte seine Schwägerin Anette S. und ihre Töchter umbringen, damit seine Frau an das Erbe kommt, so die Anklage. Der Mord sollte als „erweiterter Suizid“ getarnt werden. Es hätte dann so ausgesehen, als ob Anette S. ihre Töchter, die achtjährige Chiara und die elfjährige Sharon, ermordet und sich dann selbst umgebracht hat. Während die Anklage verlesen wird, schüttelt Thomas S. oft den Kopf, guckt verdutzt und reibt sich ungläubig die Augen. Eine junge Polizistin, die ihn mit in den Saal geführt hat, schlägt entsetzt die Hände vors Gesicht.
Die rekonstruierte Version der Tat lässt den Zuschauern das Blut in den Adern gefrieren. Thomas S. habe sich im Baumarkt ein fünf Meter langes Kunststoffseil besorgt, dazu eine Kurzhantelstange, eine Taschenlampe und Terpentin eingepackt, um seine Opfer zu betäuben. Er wusste, dass immer mittwochabends in der Kneipe „Schabernack“ ein Musik-Quiz stattfindet und seine Schwägerin dort aushilft, weil ihr Lebensgefährte das Lokal betreibt. Und er wusste, dass die nur 50 Meter entfernte Wohnung von Anette S. unverschlossen ist. Die Mädchen sollten jederzeit aus dem Haus kommen können, wenn etwas passiert.
Am 24. März 2011 kurz nach Mitternacht sei S. in das Haus eingedrungen und habe erst versucht, die schlafende Chiara mit dem Plastikseil zu erdrosseln. Sharon hatte offenbar mitbekommen, dass der Onkel ihre Schwester angegriffen hat, und wollte fliehen. Doch Thomas S. soll ihr den Weg verstellt und sofort begonnen haben, mit der Hantelstange auf das Kind einzuschlagen. Sharon konnte wohl ausweichen. Die Eisenstange traf sie leicht an Kopf und Schultern. Das Mädchen wehrte sich. Es fügte dem Onkel eine Verletzung an der Nase zu.
Seil. Küchenmesser. Hantelstange. Volle Wucht
Thomas S. soll nach einem Küchenmesser gegriffen und auf seine Nichte eingestochen haben. Wahrscheinlich voller Hass. Die Rechtsmediziner maßen Stichkanäle von bis zu 17 Zentimeter Länge. Das Küchenmesser hatte eine zwölf Zentimeter lange Klinge. Er muss mit voller Wucht zugestoßen haben. Während Sharon um ihr Leben kämpfte, versuchte die bereits schwer verletzte Chiara, von innen die Tür zum Kinderzimmer zuzudrücken. „Sie muss Todesangst verspürt haben“, sagt Staatsanwalt Florian Gliwitzki. Als die ältere Schwester im Sterben lag, soll sich der Onkel Chiara zugewandt haben. Er drückte die Zimmertür auf, schlug Chiara mit der Hantelstange auf den Kopf und stach mit dem Messer auf Hals und Oberkörper des Mädchens ein.
Dann habe der Angeklagte das Blut weggewischt und sei in den zweiten Stock gegangen. Er riss das Stromkabel der Deckenbeleuchtung heraus, damit seine Schwägerin bei der Rückkehr kein Licht einschalten kann, ließ die Badewanne volllaufen und legte einen eingesteckten Handmixer daneben, um auf diese Weise Anette S. zu töten. Doch die Schwägerin kam nicht. Irgendwann soll Thomas S. seinen Plan aufgegeben und das Haus verlassen haben. Die Mutter der beiden Mädchen kam gegen 4.45 Uhr nach Hause und entdeckte ihre ermordeten Töchter.
Zwei junge Polizisten waren die Ersten am Tatort. Einer der beiden schildert diese Minuten mit brüchiger Stimme vor Gericht. Die Bilder werde er nie vergessen. Wie die Mutter die blutverschmierten Hände vors Gesicht schlug und schrie „Tun Sie doch etwas!“ Aber er konnte nichts mehr tun. „Manchmal ist es schwierig, die richtigen Worte zu finden, manchmal will man einfach nur schreien“, sagt der Beamte.
Thomas S. schweigt. Er lässt seinen Verteidiger Adam Ahmed ausrichten, er mache vorerst keine Angaben. Als der Vorsitzende Richter Ralph Alt die persönlichen Daten des Angeklagten vorliest, nickt der nur. Es wird ein aufwendiger Indizienprozess werden mit vielen Zeugen und Sachverständigen. 13 Prozesstage sind angesetzt. Die Staatsanwaltschaft will Thomas S. vor allem mit DNA-Spuren am Tatort und an den Tatwaffen überführen.
Was für ein Mensch ist das? Der Psychiater Henning Saß, der S. im Gefängnis sechs Stunden lang begutachtet hat, spricht von einer „normalen Kindheit“ und einem „normalen Lebenslauf“. S. nickt dazu. Was für ein Mensch ist das? Die ältere Dame aus Krailling hat ihr Urteil gefällt: „Das ist kein Mensch.“
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