Warum sich die Corona-Regeln an den Inzidenzen orientieren müssen
Die Freien Wähler zweifeln am Sinn von Inzidenzwerten. Bayern solle sich bei der Bekämpfung der Pandemie künftig an anderen Kriterien orientieren. Eine Zauberformel aber gibt es nicht.
Warum eigentlich so und nicht anders? Rauf und runter wird diese Frage debattiert. Tag für Tag. In unendlich vielen Variationen. Und unmittelbar nach den Ministerpräsidentenkonferenzen im Bund und den Kabinettssitzungen in den Ländern, wenn mal wieder neue Corona-Regeln beschlossen wurden, herrscht fast schon babylonische Sprachverwirrung. Alle reden von sich. Keiner versteht den anderen. So zumindest hört es sich oft an.
Ende vergangener Woche, nachdem die Staatsregierung ihr Konzept für erste Öffnungen in Bayern vorgelegt hat, kam die Frage in folgender Form daher: Warum muss es eigentlich so kompliziert sein? Warum gelten plötzlich von Stadt zu Stadt und von Landkreis zu Landkreis bei verschieden hohen Inzidenzwerten verschiedene Regeln? Das gibt doch ein völliges Durcheinander! Das führt doch bloß wieder zum gefürchteten „Shopping-Tourismus!“ Und überhaupt: Wie soll das gehen in Landkreisen und Städten, in denen die Inzidenzwerte um die entscheidenden Marken von 50 und 100 schwanken? Das gibt doch ein Hü und Hott: Geschäfte auf, Geschäfte wieder zu. Schüler in die Schule, Schüler wieder daheim. Private Treffen zu dritt, private Treffen zu fünft.
Die Politiker haben der Forderung nach Lockerungen in der Corona-Pandemie nachgegeben
Also: Warum eigentlich so und nicht anders? Die Frage lässt sich in diesem Fall zunächst einmal so beantworten: Weil die Politik der immer wuchtiger vorgetragenen Forderung nachgegeben hat, dass ein harter Lockdown in Regionen mit niedriger Inzidenz gegenüber den Menschen vor Ort nicht zu rechtfertigen wäre, gleichzeitig aber im Grundsatz an ihrem Kurs in der Bekämpfung der Pandemie festhält.
Dahinter freilich steckt noch etwas anderes: das geltende Recht. Es gehört zu den fundamentalen rechtlichen Grundsätzen, dass Gleiches gleich zu behandeln ist. Darüber können sich auch Regierungen nicht hinwegsetzen, wollen sie nicht vor Gericht eine Niederlage nach der anderen kassieren. Das zentrale Argument dafür, eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner als Grenzwert zu bestimmen, war die Möglichkeit der Nachverfolgung der Infektionen. Wenn diese Möglichkeit zur Eindämmung der Pandemie in einer Region besteht, dann gibt es dort keine Rechtfertigung mehr für massive Einschränkungen von Grundrechten. Eine Stadt mit einem Inzidenzwert von 30 kann auf Dauer nicht so behandelt werden wie eine Stadt mit einem Inzidenzwert von 300. Eine derartige Regelung hätte vor Gericht nicht lange Bestand. Auch daran müssen sich Regierungen bei ihren Entscheidungen orientieren. Deshalb so und nicht anders.
Warum öffnen die Baumärkte, nicht aber Möbelhäuser oder Einzelhändler?
Weitere Beispiele dafür gibt es jede Menge. Als sich die Staatsregierung in Bayern dafür entschied, den Menschen den Besuch beim Friseur nicht länger zu verbieten, war schnell klar, dass man auch den Besuch beim Fußpfleger oder im Nagelstudio wird gestatten müssen. Als „körpernahe Dienstleistungen“ waren diese Branchen gleich zu behandeln. Kleine Ergänzung für Witzbolde: Bordelle gehören selbstverständlich nicht dazu.
Oder die Gärtner: Es ist verderbliche Ware, die aktuell in Bayerns Gewächshäusern steht. Das Hauptgeschäft der selbstproduzierenden Gärtner findet vor Ostern statt. Ihnen sollte zuerst geholfen werden. Aber wenn sie öffnen dürfen, dann können auch Blumenläden und Gartenmärkte nicht länger geschlossen bleiben. Und wer diese Öffnungen gestattet, der muss auch der Baywa mit ihrem großen Gartensortiment erlauben, wieder aufzusperren, und kann das in letzter Konsequenz dann auch den Baumärkten mit einem kleineren Angebot an Pflanzen nicht verweigern. Das ist die Antwort auf die zuletzt oft gestellte Frage: Warum eigentlich die Baumärkte, nicht aber Möbelmärkte oder Einzelhändler?
Der neue Stufenplan wird wohl ärgerliche und belastende Folgen haben
Die Folgen, die der neue „Stufenplan“ und die vehement geforderte Regionalisierung bei der Corona-Bekämpfung mit sich bringt, werden wahrscheinlich sehr ärgerlich und belastend sein. Die Hoffnung auf eine „Öffnungsperspektive“ bleibt vage. Für einige Branchen, Kulturbetriebe und Sportveranstalter gibt es sie nach wie vor nicht. Wer für seine Wiedereröffnung einige Tage oder gar Wochen Vorlauf braucht, der kann nicht verlässlich planen, wenn das, was vor Ort an Regeln gilt, von schwankenden Inzidenzwerten abhängig ist.
Deshalb drängt sich längst eine neue Frage in den Vordergrund: Warum eigentlich müssen wir uns weiterhin an starren Inzidenzwerten orientieren und nicht an anderen Kriterien wie der Belegung der Intensivbetten, der Sterblichkeitsrate, der Wirkung von Schutzmaßnahmen oder der gesellschaftlichen Relevanz von Institutionen und Branchen? In Bayern sind es vor allem die Freien Wähler, die mit ihrem „Bayernplan“ in diese Richtung gehen wollen. Ihr Kernargument lautet, dass die Inzidenzwerte in dem Maß an Aussagekraft verlieren, wie die Impfrate steigt.
Ohne die Inzidenzwerte geht es am Ende nicht
Das ist zwar richtig, aber es ist halt auch trivial. Sobald jeder die Möglichkeit hat, sich impfen zu lassen, gibt es kein Argument für die Einschränkung von Grundrechten mehr. Dann kann jeder sich selbst schützen. Der Staat hat sich herauszuhalten.
Bis es so weit ist, gibt es für Regierungen aber vermutlich keine andere Möglichkeit, als die Gültigkeit von mehr oder weniger strengen Regeln an Inzidenzwerte zu knüpfen. Eine Zauberformel, die alle Kriterien berücksichtigt und am Ende zu einem klar definierten Wert kommt, der belastbar ist und einer gerichtlichen Überprüfung standhält, können die Freien Wähler nicht vorlegen. Die Regeln können an die Entwicklung der Infektionslage angepasst werden. Ohne eine Zahl, die jeder versteht, geht es am Ende nicht.
Dazu nur ein, zugegebenermaßen krasses Beispiel: Die gesellschaftliche Bedeutung von Gastronomie und Hotellerie ist in Kur- und Ferienorten ungleich größer als in industriell geprägten Städten. Sollten die Wirte und Hoteliers dort früher öffnen dürfen? Müssten dann im Gegenzug die Schüler in diesen Regionen länger im Wechselunterricht bleiben? Und wer trifft die Entscheidung – die Staatsregierung, der Landrat oder der Bürgermeister vor Ort?
Die Folgen kann sich jeder selber ausmalen: Verwirrung und Chaos wären noch größer. Die Frage „Warum eigentlich so und nicht anders?“ würde noch öfter und mit noch größerer Berechtigung gestellt.
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Wäre letztes Jahr mehr getestet worden, wären die Inzidenzen letztendlich höher gewesen. Die Reaktion der Politiker sowie die getroffenen Maßnahmen sind nicht überzeugend und die FW haben da schon die richtigen Argumente.
Guter Artikel. Es wird immer jemand was an den Maßnahmen auszusetzen haben.