In Bayern breitet sich der Wolf aus. Jüngst sind Tiere im Allgäu und im Landkreis Fürth gesichtet worden. Herr Professor Kotrschal, Sie sind ein international anerkannter Experte für Wölfe, haben mit zwei Kolleginnen im österreichischen Ernstbrunn das Wolf-Science-Center aufgebaut und sind auf Einladung des Augsburger Tierschutzvereins nach Augsburg gekommen – wie wahrscheinlich ist es, dass ich jetzt als Spaziergänger einem Wolf begegne?
Prof. Kurt Kotrschal: Möglich ist es schon, aber es bleibt eher unwahrscheinlich. Denn Wölfe sind zwar sehr neugierige, aber auch sehr scheue Tiere und meiden in der Regel den Menschen. Passieren kann es natürlich schon, dass jetzt einmal ein junger Wolf durch ein Dorf läuft.
Und was ist dann zu tun?
Kotrschal: Nichts. Lassen Sie ihn durchlaufen. Allzu nett sollten Sie allerdings nicht zu ihm sein. Sollte ein junger Wolf wirklich näher kommen, kann man ihn anschreien oder einen Stein nach ihm werfen – dann hauen die Tiere in der Regel ab. Was auf gar keinen Fall getan werden darf, ist die Tiere anzufüttern. Das ist ein absolutes Tabu. Wölfe, die abgeschossen werden mussten – oft unter großem Aufschrei der Tierschützer – waren meist angefütterte Wölfe, die ihre angeborene Distanz zum Menschen verloren haben.
Gerade Bauern, die Schafe züchten, fordern nicht selten mehr Abschussmöglichkeiten für Wölfe. Verstehen Sie die Ängste der Bauern?
Kotrschal: Ein gewisses Verständnis habe ich. Aber es nützt nichts. Der Wolf ist eine Tatsache. Und er ist gesetzlich ein streng geschütztes Tier, das wird auch so bleiben. Dies hat auch mit der EU zu tun. Dort bekommen die Deutschen und Österreicher, in deren Reihen Vertreter sind, die den Wolf zum Abschuss frei geben wollen, nie eine Mehrheit. Weil die meisten anderen Länder, die im Übrigen viel mehr Wölfe haben als wir, mit den Tieren wenig Probleme haben. Osteuropa zum Beispiel. Aber auch Italien.
Warum haben wir mehr Probleme mit dem Wolf als die anderen Länder?
Kotrschal: Da kann man nur Vermutungen anstellen. In Deutschland, aber auch in der Schweiz ist der Kontrollzwang viel ausgeprägter. Es hat sicher mit dem Lebensstil zu tun: In Italien beispielsweise herrscht einfach eher die Einstellung, leben und leben lassen. Dort finden sich auch längst in der Hauptstadt, also in Rom, auf einem alten Industriegebiet Wölfe. Und Berlin wird folgen: In Berlin könnte es bald Wölfe geben.
Der Wolf wird sich weiter ausbreiten?
Kotrschal: Ja, die Zahl der Wölfe wird zunehmen. Momentan haben wir in Deutschland etwa 1000 Wölfe, aber die Zahlen schwanken stark, je nachdem ob man das zuständige Bundesamt oder den Jagdverband konsultiert. Dazu muss man aber wissen, dass in wolfgesättigten Gegenden wie etwa in Nordsachsen keine weiteren Wolfsrudel hinzukommen werden. Ein Rudel, das sind im Schnitt vier bis acht Tiere, braucht etwa 200 bis 400 Quadratkilometer. Auch in diesen gesättigten Gebieten bleiben die Wolfsdichten also relativ gering. Probleme bereiten eher die einzelnen Jungwölfe, die noch kein festes Rudel haben. Sie richten die meisten Schäden an.
Gerade für Almbauern in Bayern ist die Aussicht, dass es immer mehr Wölfe geben wird, sicher ein Albtraum.
Kotrschal: Wie gesagt, sie sind aber da und wir brauchen jetzt nicht mehr herumzudiskutieren. Viel wichtiger wäre es, sich wieder das Wissen anzueignen, um mit dem Wolf zu leben. Schließlich hat das über Jahrhunderte geklappt. Es sind alte Kulturtechniken, die aber leider vergessen wurden und teilweise auch nicht mehr praktiziert werden – man denke nur an die Hirten, die es heute auch kaum noch gibt.
Was raten Sie betroffenen Bauern?
Kotrschal: Sie müssen sich schützen und auch damit leben, dass trotz allem so manches Tier vom Wolf gerissen wird. Das ist gerade für kleinere Almbauern, die heute eh nicht die Preise erzielen, von denen sie gut leben können, ganz klar ein Verlust. Aber es hilft alles nichts.
Was ist der beste Schutz?
Kotrschal: Das kommt immer ganz auf die Lage an. Elektrozäune sind eine gute Lösung, weil Wölfe extrem lernfähige Tiere sind, und ein Wolf, der einmal erlebt hat, dass ein Schaf zu reißen mit Schmerz verbunden ist, wird das künftig lassen. Wölfe bevorzugen bequeme Beute.
Elektrozäune können aber nicht überall aufgestellt werden.
Kotrschal: Das stimmt. Dann müssen andere Lösungen angewandt werden. In weiträumigen Almgebieten können die Bildung großer Herden, Herdenschutzhunde und Behirtung helfen, das ist aber auch keine einfache Lösung, weil dafür sehr spezielle Hunde nötig sind. Entscheidend ist: Ein Wolfschutz ist nicht einfach und er ist nicht billig und in seltenen Fällen mag er gar nicht möglich sein.
Gerade Städtern wird oft ein romantisierendes Bild vom Wolf vorgeworfen.
Kotrschal: Das stimmt aber so nicht. Repräsentative Umfragen zeigen, dass insgesamt eine deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschland und Österreich, es sind etwa 70 Prozent, das Wiederauftreten von Wölfen positiv finden – unabhängig davon, ob sie auf dem Land oder in der Stadt leben. Romantisiert wird der Wolf allerdings schon oft, weil er wie kaum ein Tier für Freiheit und unberührte Natur steht.
Welche positiven Aspekte gibt es, die für den Wolf in freier Natur sprechen?
Kotrschal: Wo es Wölfe gibt, steigt die Biodiversität. Wölfe leben in der Regel nicht von Schafen. Laut einer vom Deutschen Jagdverband eben veröffentlichten Studie leben sie zu über 50 Prozent von Rehen, gefolgt von Wildschweinen und Rothirschen. Und nur zu 0,3 Prozent von Nutztieren. Zudem töten sie Rotfüchse und Goldschakale, die ja auch wieder verstärkt in Deutschland zu finden sind. Wölfe halten die Wildbestände gesünder, als Jäger das können; deren Widerstand gegen die Wölfe ist daher für mich nicht ganz nachvollziehbar.
Warum polarisiert der Wolf eigentlich so stark - man hat den Eindruck, entweder er wird geliebt oder gehasst?
Kotrschal: Der Mensch stand dem Wolf noch nie gleichgültig gegenüber. Die Gründe dafür sind in der langen, gemeinsamen Geschichte zu finden: Schon vor etwa 35.000 Jahren kooperierten Wolf und Mensch gerade bei der Jagd. Und kein Tier ist dem Menschen sozial und ökologisch gesehen so ähnlich wie der Wolf. Hinzu kommt, dass der Wolf stets eine spirituelle Komponente hatte - in manchen Ländern bis heute: Schauen Sie nur in die Mongolei. Dort lebte der alte animistische Brauch wieder auf, Tote den Wölfen zu überlassen, damit sie die Seelen ins Jenseits überführen. Es gibt aber auch die Kehrseite: Der Wolf als Symbol rechtsradikaler Kreise - etwa im Nationalsozialismus aber beispielsweise auch in der Türkei bei den „Grauen Wölfen“.
Zur Person: Professor Kurt Kotrschal ist Professor an der Universität Wien, er leitete die Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau, ist Buchautor und war Mitbegründer des Wolfzentrums im niederösterreichischen Ernstbrunn.
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