

Kisten für Kiew: Zu Besuch bei denen, die helfen
Der Ukraine-Krieg hat in Bayern eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Über Freiwillige, die kaum mehr schlafen, und Politiker, die nun handeln müssen.
In einer ruhigen Minute – und von denen gibt es wenige an diesem Dienstag – steht Wolfgang Gensberger, 52, auf dem Hof seines Baubetriebs in Neuburg an der Donau und muss mal kurz durchatmen. Der Plan mit dem Konvoi zur ukrainischen Grenze ist dann doch etwas aus dem Ruder gelaufen. Alles ist größer geworden. Und aus Unternehmer Gensberger wurde Hilfskommandant Wolfgang.
Ein Bekannter hat ihm gerade noch einen Hunderter in die Hand gedrückt: „Reicht das für die Tankfüllung? Für den Sprinter?“ Ein Unbekannter wollte Decken bringen und Geld. „Oder hier“, ruft Gensberger, kurzes Scrollen durchs Handy, das unentwegt bimmelt: Ein Facebook-Freund, einmal gesehen im Leben, hat ihm eine eigene Internetseite aufgesetzt. Ukraine-Hilfe Bayern. „Und hier, der Mann da – ich kenn den gar nicht – schleppt seit zwei Stunden!“
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Bayern packt, spendet und hilft
„Der Mann da“ kommt aus Bayerdilling, eine halbe Stunde entfernt, und sagt: „Meine Familie hat die ganzen alten Klamotten aussortiert, sechs Kisten.“ Auch einen privaten Hänger hat er zur Verfügung gestellt. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Er will einfach nur helfen.
Bayern packt. Bayern spendet. Bayern hilft. Dass in Charkiw, Ukraines zweitgrößter Stadt, das Rathaus zerschossen wird, dass die Menschen in Kiew nicht wissen, wie lang ihre Heimat gegen Putins Truppen noch zu halten ist, dass in Europa wieder Bomben fallen – es bewegt Coburger wie Kemptnerinnen. Mit bis zu vier Millionen Kriegsflüchtlingen rechnen die Vereinten Nationen. 50.000 davon könnten schon bald im Freistaat ankommen, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann unserer Redaktion. Hilfe ist da gefragt und wichtig. Und während die Kommunen sich wappnen für die ankommenden Geflüchteten, wollen unzählige Privatinitiativen lieber heute als morgen Spenden nach Osteuropa schicken.
In Neuburg wurde aus einem Hilfstransporter ein ganzer Konvoi
Wolfgang Gensberger aber muss noch einen Tag warten. Die Sonne steht tief an diesem späten Dienstagnachmittag in Neuburg. Ein Sprinter ist eben bis unters Dach mit Kleidung, Bettwäsche und Pampers vollgeladen worden. Nun schleppen Helferinnen und Helfer Dutzende Pakete in einen 40-Tonner.
Alles begann mit Sepp Bumsinger, echter Name: Markus Langer. Ein Comedian aus Erding. Er organisierte einen Hilfskonvoi und fragte seinen Freund Gensberger nach einem Transporter. Dessen Frau Jana, selbst mit familiären Wurzeln in die Ukraine, sagte: „Das machen wir größer!“ Gensberger also startete Aufrufe auf Facebook und im Radio. Er dachte: „Ein Sprinter, okay, aber kriege ich auch einen zweiten voll?“ Nun werden 13 Kleintransporter, fünf davon mit Hänger, und fünf Lastwagen starten. An die 5000 Pakete, dazu 24.000 Euro an Geldspenden.

Ein Getränkehersteller brachte vier Paletten Wasser. Der örtliche Rewe-Leiter finanzierte einen kompletten Kleinbus voller Lebensmittel. Und als Gensberger in der Badewanne lag, um halb zehn Uhr abends, rief ein befreundeter Großbäcker an: „Noch in der Nacht hat er die Produktion umgestellt und ließ eine Linie mit 1000 Broten fahren, mit Konservierungsstoffen, einzeln verpackt. Das macht er sonst nicht“, sprudelt es aus Gensberger heraus. Er schwimmt in Euphorie.
Freiwilliger aus Neuburg: "Helfen muss man. Egal wem"
Irgendwann kamen so viele Spenden an, da bat er nicht mehr um Hilfsgüter für Flüchtlinge, sondern auch für diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind, um ihr Land zu verteidigen. Er fragte nach Verbandszeug, nach Medikamenten, Isomatten, Decken und Bundeswehrkleidung. „Das sind Hobbysoldaten, verstehen Sie? Versicherungskaufmänner, Bauunternehmer, Reporter, stolze Leute. Für die brauchen wir jetzt Sachen. Die Versorgung im Inland ist komplett zusammengebrochen“, sagt Gensberger. Hinter ihm räumt währenddessen Aldin Babahmetovic Kiste für Kiste in den Lastwagen. Der 31-Jährige weiß, wie sich Krieg anfühlt: Seine Eltern flohen in den 90ern aus Bosnien. „Helfen muss man“, sagt er. „Egal wem. Helfen muss man.“
In München hat der Flughafenverein tonnenweise Spenden gesammelt. Bayerns neue Sozialministerin Ulrike Scharf ist vor Ort. Sie sagt: „Ich bin sehr berührt von den vielen Initiativen, die gerade auf den Weg gebracht werden. Die Menschen in Bayern stehen zusammen und zeigen sich solidarisch.“
Dozentin aus Augsburg sollte eigentlich gerade in Kiew referieren
Seit ihrer Vereidigung ist Scharf im Krisenmodus. An ihrem ersten Arbeitstag überfiel Putin die Ukraine. Sofort traf sie sich mit Vertreterinnen und Vertretern der Wohlfahrtsverbände. Jetzt richtet ihr Ministerium ein Hilfstelefon ein für die etwa 30.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Bayern, die sich um ihre Verwandten und Bekannten in der Heimat sorgen.
Viele Landsleute helfen auch in Augsburg, in Zusammenarbeit mit der Stadt und dem Ukrainischen Verein. Der organisiert Spenden in die Ukraine und Fluchttransporte nach Deutschland. Mitglied Tanja Hoggan-Kloubert fallen die blonden Locken ins Gesicht. Ein trauriges Lächeln. Eigentlich sollte die Dozentin, die an der Uni Augsburg mit dem Forschungsschwerpunkt Demokratie, Propaganda und Migration arbeitet, diese Woche in Kiew referieren. „Für heute war ein Workshop geplant. Kommunikation über Grenzen hinweg wäre das Thema gewesen“, sagt sie am Dienstag und schluckt.
Seit zwei Jahrzehnten lebt sie in Augsburg und fühlt sich als Weltbürgerin. Ihre Familie, die in der Westukraine wohnt, nimmt in diesen Tagen andere Familien auf, die von weiter östlich her geflohen sind. „Ich fühle mich schuldig. Schuldig, weil ich in meinem warmen Bett in Augsburg aufwache und nicht in der Ukraine bin“, sagt Tanja Hoggan-Kloubert.
Bayern: Flüchtlinge werden vorerst privat untergebracht
Innerhalb von wenigen Tagen habe sich der Verein in ein Friedensinstitut entwickelt. „Wir sind als Community gewachsen.“ Nicht nur Ukrainerinnen und Ukrainer wollten helfen – deutsche, kroatische, bulgarische, polnische Menschen meldeten sich bei ihnen. „Wenn der Anlass nicht so traurig wäre, wäre ich euphorisch über diese Solidarität.“
Die Stadt und der Ukrainische Verein bündeln auch private Wohnungsangebote. Dass Geflüchtete in Sammelunterkünften unterkommen, sei vorerst nicht notwendig, sagt Karl-Heinz Meyer, Sprecher der Regierung von Schwaben. Noch aber würden konkrete Informationen fehlen: Wie und wann kommen Flüchtlinge im Regierungsbezirk an? Welche Vorgaben gibt es vonseiten der Staatsregierung und vonseiten der EU?
Viele Fragen, viele Gespräche. Auch innerhalb des bayerischen Politikbetriebs laufen die Telefonleitungen heiß. Bayerns Innenminister Herrmann erreicht man auf dem Weg in sein Abgeordnetenbüro in Erlangen, wenige Minuten vor einer Videoschalte, die er hat: Innenministerkonferenz. Der CSU-Mann sagt: „Entscheidend ist, dass die Menschen, die zu uns kommen, spüren, dass ihnen schnell und unbürokratisch geholfen wird.“
Im Idealfall heißt das: Kein Prüfverfahren, schnelle Arbeitserlaubnis, private Unterbringung bei Freunden, Familie, Freiwilligen. Das alles wäre möglich, wenn die EU-Innenminister an diesem Donnerstag die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie beschließen. Davon geht Herrmann aus. Es wäre ein Novum in Europa.
Helfer in Augsburg schlafen wenig bis gar nicht
Der Innenminister hat inzwischen einen Rundbrief an die Kommunen geschrieben, auch an Thomas Jung, den Oberbürgermeister von Fürth in Mittelfranken. Der stellt sich auf bis zu 800 ukrainische Kriegsflüchtlinge in seiner Stadt ein. „Es läuft geschmeidiger als 2015. Die Strukturen von damals können reaktiviert werden“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Städtetags. Damals, das war die Zeit, als die Ankunft von mehr als einer Million Flüchtlingen, vor allem aus Syrien, Deutschland komplett unvorbereitet traf. Die Behörden waren überfordert, bundesweit entstanden provisorische Containerdörfer.
Wie in Augsburg ist auch in Fürth eine Unterbringung von ukrainischen Geflüchteten in solchen Massenunterkünften zunächst nicht geplant. „Wir haben immer noch Corona. Deshalb suchen wir nach dezentralen Einrichtungen und leer stehenden Hotels“, sagt Jung.
Hochfeldstraße 63, Augsburg. Hier bündelt sich die Hilfsbereitschaft eines Großraums. In einer Halle sammelt der Ukrainische Verein Sachspenden. Schilder an Straßenlaternen beschreiben den Weg zum Eingang des Lagers. Der Flur ist dunkel. Rechts stapeln sich Kisten, links steht ein provisorischer Empfangstisch. „Keine Klamotten“, steht auf einem Stück Papier, geschrieben mit rotem Filzstift, geklebt an eine Wasserflasche. An den Wänden hängen noch mehr gebastelte Hinweise. Meist auf Deutsch und Ukrainisch.
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Ein paar Treppenstufen weiter öffnet sich eine Doppeltür zu einem größeren Raum. Ein Kruzifix an der Wand, und noch mehr Kisten und Säcke. Helferinnen und Helfer sortieren die Spenden. Decken, Schlafsäcke, Isomatten, Lebensmittel. Dazwischen steht Andreji Rymliansky. Fast übersieht man ihn – sein Anorak ist pappkartonfarben. Er hat das angezogen, was gerade eben so rumlag, nur kurz geduscht. Das Haar ist etwas zerzaust. Zum Essen und Schlafen kommt er gerade selten. Aber so würde es allen Helfern gehen. „Ich weiß nicht, woher wir die Energie nehmen. Alle schlafen drei bis vier Stunden. Teilweise gar nicht“, sagt der 28-Jährige.
Horror-Nachrichten: Russische Soldaten verkleiden sich als Ukrainer
Eine Frau geht jetzt auf ihn zu. Ein Plausch auf Ukrainisch. „Wer morgen Zeit hat, kann gerne beim Sortieren helfen“, ruft sie dann in die Halle und in den Flur. Der Zulauf ist so groß, dass sie Spenden mittlerweile nicht mehr jeden Tag annehmen könnten, erklärt sie. Rymliansky hält sein Handy in der Hand. Seine Familie wolle die Ukraine nicht verlassen, sagt er. „Mein Vater ist Jäger. Er hat geschworen, er kämpft bis zur letzten Kugel.“ Rymliansky umklammert das Handy noch etwas fester. Anrufe mit seinen Eltern würden häufig nur eine Minute dauern.
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Während sie in der Ukraine Widerstand leisten, hilft er in Augsburg fast rund um die Uhr. Er liest keine Zeitung, er schaut kein Fernsehen – seine Frau ist seine Nachrichtensprecherin. Was sie sagt, würde sich mit Erzählungen von Verwandten und Freunden vermengen, die direkt aus der Ukraine kommen, erzählt Rymliansky. „Wir haben gehört, dass russische Soldaten sich als Ukrainer verkleiden, um in Orten Raketen-Markierungen anzubringen.“ Die Situation könne man nicht einschätzen, nur bewundern, wie sich die ukrainische Bevölkerung wehre. Er fühlt sich ohnmächtig. Nur eines hilft ihm darüber hinweg: das Engagement im Ukrainischen Verein. „Ich kann nicht anders“, sagt er.
Weiterer Spenden-Konvoi aus Neuburg soll schon nächste Woche losfahren
Die ersten Kisten aus der Augsburger Lagerhalle sind schon seit einigen Tagen in der Ukraine. Die nächste Ladung soll spätestens am Wochenende folgen. Wolfgang Gensbergers Konvoi ist am Mittwochnachmittag bereits unterwegs. Hof, Görlitz, Warschau, Przemysl, polnisch-ukrainische Grenze. Gut 1200 Kilometer. Der Hilfstrupp wird kurz davor einen Nachtstopp einlegen, dann einen Kontakt in die Ukraine absetzen. Sattelschlepper werden ihm entgegenkommen und die Spenden ins Kriegsgebiet bringen. Das ist der Plan.
Und es wird weitergehen: Vom Autobauer Audi hat Gensberger Verbandsmaterial bekommen. Ein Neuburger Unternehmen brachte Desinfektionsmittel. Eine Firma für Sanitätsbedarf räumt ihr Lager leer: Rollatoren, Krücken, Rollstühle. Allein damit können sie wohl wieder einen 40-Tonner befüllen. „Nächste Woche geht’s erst richtig los!“, sagt Wolfgang Gensberger noch. Dann wird der nächste Konvoi in die Ukraine rollen.

