Anke Berger nimmt ihre Sonnenbrille ab und öffnet das Tor zum Untergrund. Genauer: den Eingang des blauen Sichtschutzzauns auf der Südseite des Münchner Hauptbahnhofs. Hier kommt niemand rein, außer den Menschen, die irgendetwas mit dem gigantischen Neubauprojekt zu tun haben, das noch mindestens bis Mitte der 2030er Jahre das Bahnhofsviertel zur Baustelle macht. Treppe um Treppe geht es hinunter, vorbei an der Statue der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute. Sie soll die Bauarbeiter auf ihrem Weg in die Tiefe beschützen.
„Jeder Arbeiter hat einen Tracker und einen Rucksack mit einem Sauerstoffselbstretter“, erklärt Berger. Man befindet sich jetzt direkt unter der alten Bahnhofs-Empfangshalle, die seit 2019 nach und nach kontrolliert abgebrochen wird. Auf Ebene -1 der Baustelle, in sieben Metern Tiefe. Grundriss an dieser Stelle: 80 auf 60 Meter. Die gesamte Baugrube reicht derzeit 28 Meter in den Untergrund. Hinter den betonierten Behelfswänden: Grundwasser. „Das hier ist wie ein riesiger Schuhkarton, den man in eine Badewanne gestellt hat“, sagt die Ingenieurin. Mehr als 50 Brunnen sorgen dafür, dass das Wasser nicht hereindrückt.

Anke Berger – cremefarbene Bluse, Blazer, Warnschutzjacke – ist bei der Deutschen Bahn (DB) seit gut zwei Jahren die Technische Leiterin „Hauptbahnhof Tief“. Zuständig für alles also, was beim Neubau des Münchner Knotenpunkts im Untergrund passiert. Für alles, wovon die vorbeieilenden Menschen draußen nichts mitbekommen.

Sie deutet hinunter in Richtung der Ebene -6, der tiefsten. Dort wird die Baugrube um weitere 90 Meter S-Bahn-Tunnel Richtung Westen verlängert, also zu den heutigen Bahngleisen hin. Unten wuseln Arbeiter herum, sie sehen aus wie Playmobilmännchen ganz in Orange. „Wo wir jetzt stehen, wird einmal der zentrale Aufgang von der S-Bahn-Haltestelle in die neue Empfangshalle sein“, sagt Berger. „Man wird von ganz unten nach ganz oben schauen können, und ein großes Glasdach wird alles überspannen.“ So anschaulich, wie sie es skizziert, wähnt man sich schon auf der Rolltreppe Richtung Tageslicht. In einer noch ziemlich fernen Zukunft.
Der neue Hauptbahnhof soll künftig täglich bis zu 850.000 Reisenden, Pendlerinnen und Pendlern als Verkehrsknotenpunkt dienen, endlich wieder den Anforderungen von immer mehr Publikumsverkehr entsprechen, der das alte Gebäude an seine Kapazitätsgrenze gebracht hatte, und ist laut DB „ein wichtiger Baustein für eine erfolgreiche und klimafreundliche Verkehrswende“. Es ist ein Mega-Projekt. Denn der Bahnhofsneubau ist untrennbar verknüpft mit der Fertigstellung der 2. S-Bahn-Stammstrecke. Und das sogenannte Vorhaltebauwerk für eine mögliche neue U-Bahn-Linie 9 muss ebenfalls realisiert werden. Würde man alle einzelnen Maßnahmen nacheinander umsetzen, wäre das logistisch und wirtschaftlich nahezu unzumutbar für die Landeshauptstadt. „Deswegen ist es besser, das alles in einem Rutsch zu machen“, sagt Anke Berger.
Zwischenzeitlich drohte vor allem das Projekt 2. Stammstrecke auf die schiefe Bahn zu geraten, viele sagen: Der Crash stand kurz bevor. Mehrfach musste umgeplant werden, die Kosten explodierten, die Bahn musste sich vorwerfen lassen, im stillen Kämmerlein zu planen. Ein Untersuchungsausschuss im Landtag arbeitete Verzögerungen auch von politischer Seite auf. Jetzt ist die Zeit der Proteste und der Schuldzuweisungen weitgehend vorbei, gravierende Umplanungen sind nicht mehr möglich. Bis alles hier wieder normal fährt, schreibt man nach den aktuellen Planungen mindestens das Jahr 2035, wahrscheinlich sogar 2037. Bis dahin wird an vielen Stellen gleichzeitig gearbeitet.

Wer per Zug in die altbekannte Bahnhofshalle einfährt, steht vor einer riesigen metallenen Wand. Dahinter wird das alte Empfangsgebäude abgetragen. Begibt man sich nach rechts, wird dort der Treppenabgang zur U4/U5 zurückgebaut und dann verlegt, um noch mehr Platz zu schaffen für die neue Eingangshalle und das Vorhaltebauwerk für die U9. Hierfür wurde Ende Januar, geschützt durch Sprengschutzmatten aus alten Autoreifen und schwerem Vlies, ein unterirdischer Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg gesprengt. Parallel laufen die Vorbereitungen für den Interimsbahnhof auf dem südlichen Bahnhofsplatz an der Bayerstraße. Doch nun zurück in den Untergrund, zu Anke Berger und ihrem Team.
Die Tiefbau-Expertin führt zu einer grauen Metallwand. Ab und zu hört man ein Geräusch wie ein Donnergrollen, das langsam erstirbt und dann wieder Fahrt aufnimmt. „Direkt hinter dieser Wand fahren die U1 und die U2 vorbei“, erklärt sie. „Die größte Herausforderung dieser ganzen Baumaßnahme ist, dass wir sie im laufenden Betrieb durchführen.“ Am Hauptbahnhof sind jeden Tag knapp eine halbe Million Menschen unterwegs. „Wenn wir das auf der grünen Wiese bauen würden, wären wir natürlich viel schneller.“
Der Münchner Hauptbahnhof gleicht im Bau einem riesigen Puzzle
Die Pendlerströme an der Baustelle vorbeizulenken, beschreibt die Technische Leiterin als „riesiges Puzzle“. Die Sichtschutzwände, die Imbissstände, die Anzeigetafel mit den Ankünften und Abfahrten der Züge: All diese Elemente und noch viele mehr müssen ständig neu geordnet werden. Auf keinen Fall sollen sich die Fahrgäste und die Bauarbeiten in die Quere kommen. „Ich weiß gar nicht, wie oft wir allein die Schließfächer schon umgestellt haben“, sagt Berger. Und doch ist diese Art der Logistik in Bergers Beruf noch eine der einfacheren Aufgaben.
„Als Stuttgarter ist man Schlimmeres gewohnt“
Ein Reisender zur Mega-Baustelle in München
Während unten hunderte Bauarbeiter auch an diesem Tag wieder ein Stückchen weiter vorankommen, wartet oben in der Gleishalle ein Mann aus Stuttgart auf seinen Zug nach Hause. Er ist auf der Rückreise von Cluj in Rumänien. Unter einer Stahlkonstruktion, die schon für den Abbau des bisherigen MAN-Glasdachs auf dem Querbahnsteig bereitsteht, sitzt er auf seinem silbernen Koffer. Ob er sich gut zurechtfindet trotz aller Gerüste und Umwege? „Als Stuttgarter ist man Schlimmeres gewohnt“, sagt er und grinst. „Stuttgart 21 bedeutet seit Jahren ständig wechselnde Wege für Reisende. Hier läuft man immerhin nicht 20 Minuten um die Kirche rum“, umschreibt er es bildlich. Die Münchner Großbaustelle Bahnhof nimmt er locker. „Solange man lesen kann, wo die Züge, S-Bahnen und U-Bahnen fahren, ist alles okay.“

Eine Münchnerin, die regelmäßig von Sendling ins Zentrum zur Arbeit fährt, ist weniger gelassen. Sie explodiert regelrecht, wie das Dynamit des Sprengmeisters draußen. Warum? Weil so viele Baustellen gleichzeitig den öffentlichen Nahverkehr ausbremsen. Nicht nur ihre U-Bahn-Linie sei – unabhängig vom Bahnhofsumbau – „für schlappe dreieinhalb Monate eingeschränkt, wodurch der Arbeitsweg plötzlich doppelt so lang dauert“. Zudem halte „ihre“ S7 seit Monaten nicht mehr unterirdisch, sondern „im hinterletzten Eck“. Auf diese Weise soll nach Angaben der DB die strapazierte 1. S-Bahn-Stammstrecke entlastet werden. Dazu die Umwege wegen der Baustelle auf dem Hauptbahnhofs-Areal: „All das führt dazu, dass ich schon länger versuche zu vermeiden, über den Hauptbahnhof zu fahren.“ Immerhin eine Hoffnung hat sie: „Der Münchner Hauptbahnhof hat mir noch nie sonderlich gefallen, insofern wird er nach dem Umbau vielleicht schöner.“

Wenn es nach der Bahn geht, natürlich. Ein siebengeschossiges, weithin sichtbares Gebäude mit Reisezentrum, Lounge, Einzelhandel, Gastronomie, Tagungs- und Bürobereichen soll die Empfangshalle werden. In zwei Untergeschossen entstehen mehr als 600 Fahrrad- und knapp 200 Pkw-Stellplätze. Die DB trägt mehr als 70 Prozent der Kosten für die Halle, der Rest sind Bundesmittel. Beim Bau der 2. Stammstrecke ist zusätzlich der Freistaat finanziell beteiligt, für die U-Bahn zahlt die Landeshauptstadt München. Gesamtkosten für die Mega-Maßnahme: sieben Milliarden Euro für die Stammstrecke, ein dreistelliger Millionenbetrag für das Empfangsgebäude und mehr als 500 Millionen für die mögliche U9.
Der Münchner Hauptbahnhof, er wird sein Gesicht verändern. Im Jahr 1848 war er mit fünf Gleisen in Betrieb gegangen. Viele Male wurde er umgebaut. Heute umfasst das Eingangstor zur Münchner Innenstadt 32 oberirdische Gleise, dazu unterirdisch zwei S- und sechs U-Bahngleise. Nach Angaben der Bahn ist er damit, gemessen an der Gleisanzahl, der drittgrößte Bahnhof der Welt zusammen mit Tokio, nach New York und Shanghai. Die nächste Etappe bei einem der größten Bauprojekte Deutschlands wird sich ganz weit oben abspielen. Das MAN-Dach über dem Querbahnsteig – es hat eine Fläche von 20 mal 140 Meter – wird zurückgebaut.
Als nächstes ist beim Umbau des Hauptbahnhofs München das Dach dran
Das Stahlgerüst, unter dem gerade noch der Stuttgarter Rumänien-Rückkehrer auf seinen Zug wartete, wird dann ein Interimsdach halten. 130 Pfähle wurden dafür in den Boden gebohrt. „Die Gesamtlänge aller Pfähle beträgt 2,2 Kilometer“, heißt es von der Bahn, „das entspricht der Länge einer mittleren Start- und Landebahn für Flugzeuge.“ In München ruft solch ein Vergleich Unruhe hervor, erinnert er doch an ein anderes strittiges Projekt in der Landeshauptstadt: den Ausbau des Flughafens, den Streit um die dritte Startbahn. Das aber ist zum Glück eine andere Geschichte.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden