Kein Zweifel. Scarlett Johansson hat Geduld bewiesen. Zehn Jahre lang schlug sie sich als Quotenfrau im Avengers-Team durch den Marvel-Dschungel. Zehn Jahre, in denen viele Fans gern mehr über ihre Black Widow alias Natasha Romanoff erfahren hätten. Aber während Thor, Captain America, Iron Man und sogar der Hulk sich in ihren eigenen Franchises über mehrere Sequels hinweg profilieren konnten, ging Johanssons Figur immer wieder leer aus.
Bei Marvel tat man sich schwer mit weiblichen Zentralfiguren. Denn gerade im Bereich der Comic-Verfilmungen galten Alleinheldinnen als nicht „bankable“. Und dann kam Patty Jenkins „Wonder Woman“ (2017) beim Konkurrenten DC und räumte ab. Im gleichen Jahr zeigte Johansson in der Adaption des japanischen Comics „Ghost in a Shell“, dass sie sehr wohl einen Actionfilm allein auf ihren Schultern tragen kann. Aber erst nachdem in „Avengers: Infinity War“ der Superbösewicht Thanos mit einem Daumenschnips das halbe Heldenarsenal zerbröseln ließ und die Marvel-Studios mit einer narrativen Zäsur, neuen Verträgen und Langzeitplanungen die sogenannte „Phase Vier“ des „Marvel Cinematic Universe“ einläuteten, bekam auch Johansson ihre Chance.
In "Black Widow" geht es zurück in die Kindheit der Superheldin
„Black Widow“ reist nun zunächst zurück ins Jahr 1994, wo Natasha Romanoff im malerischen Ohio eine glückliche Kindheit verlebt, bis die Familie Hals über Kopf vor einer herannahenden Polizeiarmada fliehen muss. Wie sich für die beiden Töchter auf der Flucht nach Kuba bald herausstellt, sind Vater Alexei (David Harbor) und Mutter Melina (Rachel Weisz) russische Geheimagenten im Auftrag des Oberschurken Dreykov (Ray Winston). Als Natasha und die jüngere Schwester Jelena auf dem Rollfeld in einen Lastwagen verladen und von ihren Eltern getrennt werden, nehmen die Erziehungsberechtigten dies billigend zur Kenntnis.
Mehr als zwanzig Jahre später sind die beiden Schwestern von Dreykovs Organisation zu versierten Killerinnen trainiert worden. Während Natasha (Johansson) mittlerweile auf die Seite der Guten ins Avengers-Team desertiert ist, blieb Jelena (Florence Pugh) unter der Befehlsgewalt von Dreykov, der von seinem „Roten Raum“ aus eine schlagkräftige Frauenarmee aufgebaut hat. Diese sogenannten „Widows“ wurden als junge Mädchen auf der Straße aufgelesen und mit der Wut von erlittenen Gewalterfahrungen zu willenlosen Kampfmaschinen ausgebildet. Nur Jelena konnte sich von den Bewusstseinsfesseln befreien und nimmt nun Kontakt zu ihrer Schwester auf. Aber das erste Treffen in Budapest ist kein herzliches Wiedersehen, sondern ein ausuferndes Kampfkunstgefecht, bis die ungleichen Geschwister eine Gemeinsamkeit erkennen: Sie wollen Dreykov ans Leder.
Die Stellenbeschreibung von "Black Widow": Eliminierung von Bösewichtern mit Weltmachtfantasien
Für Natasha gehört als Avengerin die Eliminierung von Bösewichten mit Weltmachtfantasien zur Stellenbeschreibung. Jelena will sich für die erlittenen Qualen rächen und den Kameradinnen aus dem „Widow“-Programm ihren freien Willen zurückgeben. Der Weg zum mysteriösen „Roten Raum“ führt zunächst in ein sibirisches Gefängnis, aus dem Vater Alexei befreit wird, und zu einer Schweinefarm, wo Mutter Melina ihre biotechnischen Experimente betreibt. Die dysfunktionale Familienzusammenkunft gehört zu den unterhaltsamsten Momenten von „Black Widow“. Genüsslich werden die gestörten Elternbeziehung kontrolliert zur Explosion gebracht und der Super-Agenten-Vater, der sich als russischer Gegenentwurf zu Captian America sieht, als vermeintlicher Patriarch dekonstruiert. So sieht also eine radikale Familientherapie im Superhelden-Milieu aus, bevor sich die Verwandtschaft endlich zusammenrauft, um die Welt zu retten.
Mit „Black Widow“ ist Cate Shortland ein Marvel-Film der besonderen Art gelungen, der die narrativen Muster des Konzerns bedient, mit zahlreichen brillant orchestrierten Action-Sequenzen punktet, aber gleichzeitig einen unverkennbaren eigenen Stil entwickelt. Die Australierin hat zuvor zwei Co-Produktionen in Deutschland in Szene gesetzt. Ihr Kinodebüt „Lore“(2012) mit Saskia Rosendahl führte die jugendliche Tochter eines SS-Kommandanten durch die Nachkriegswirren, in dem Berlinale-Beitrag „Berlin Syndrome“ (2017) mit Max Riemelt geriet eine australische Touristin nach einem One-Night-Stand in die Gefangenschaft ihres Liebhabers. In beiden Filmen hat Shortland Gespür für komplexe Frauenfiguren bewiesen, die sich gegen ihre zugewiesene Opferrolle stemmten. „Der Schmerz macht dich stärker“ ist ein Satz, der auch in „Black Widow“ als Mantra mehrfach wiederholt wird und zum Schlüssel weiblicher Selbstermächtigung wird.
Kritik zu "Black Widow": Scarlett Johannson und Florence Pugh geben ein wunderbar ungleiches Schwesternpaar
Shortland dreht die feministischen Stellschrauben noch ein paar Umdrehungen weiter, als das „Wonder Woman“ oder „Captain Marvel“ machen. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die omnipotenten Kerle das Comic-Film-Format über Jahrzehnte beherrscht haben, regieren in „Black Widow“ die Frauencharaktere. Scarlett Johansson und Florence Pugh, die schon in „Lady Macbeth“ (2017) und „Little Woman“ (2019) nachhaltig beeindruckte, geben ein wunderbar ungleiches Schwesternpaar ab, das sich der eigenen Kräfte vollkommen bewusst ist. Männlichem Dominanzverhalten treten sie mit einem milden Lächeln und schlagkräftigeren Argumenten entgegen.
Wenn die Geschwister den „Red Room“ des machtgierigen Schurken stürmen, der einer Frauenarmee durch Gehirnwäsche den freien Willen genommen hat, wird das Finale zur geradlinigen Metapher für weibliche Selbstbefreiung von den patriarchalen Strukturen im eigenen Kopf. Das alles erzählt Shortland in einem entspannten, unideologischen und humorvollen Erzählton, der sich den Unterhaltungsansprüchen des Genres vollkommen bewusst ist und mit souveräner Frauenpower frischen Wind ins erneuerungsbedürftige Marvel-Universum bringt.