
Der Reiz des Philosophierens als Hörbuch


Dieter Henrich erzählt mit über 90 Jahren vom Abenteuer des Lebens. Die großen Fragen des Lebens entwickelt er auch aus eigenen Lebenserfahrungen.
Sprachnachrichten, Podcasts, Audiofiles, flotte Stimmen und Ansagen zu allem Möglichen kennen wir aus dem Alltag. Die mündliche Aufnahme gehört zum modernen Leben, in dem Mitteilungen von Jüngeren längst lieber aufgesprochen als aufgeschrieben werden. Aber einem alten Menschen zwei Stunden beim Nachdenken, Bilanzieren, Abwägen und Erinnern zuhören? Einem, der Sätze sagt wie: „Die Philosophie ist eine Bemühung, die dem Menschen eigentümlich ist“?
Sanft und eindringlich, bedächtig und im Ton auf lockende Weise altväterlich-vital führt uns der Philosoph Dieter Henrich durch das Labyrinth seines Denkens, seines Lebens, seiner Weisheit und Erfahrung. Das Hörbuch „Von sich selbst wissen“ aus dem auf solche wie am Küchentisch mitgeschnittene Selbstauskünfte spezialisierten Label Supposé ist eine fast Andacht gebietende Privatvorlesung in (Lebens-)Philosophie.
Wir hören zwei Stunden einen Geistesmenschen reden, der sich im hohen Alter von über 90 Jahren begeistert dem „ständig wirbelnden Denken“ hingibt und der die „Sekundenphilosophie“ zu seinem „genussvollen Alltagsleben“ zählt. Dieter Henrich, Jahrgang 1927, war von 1981 bis 1994 Ordinarius für Philosophie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Supposé-Macher Klaus Sander, dessen Projekte – wie Aufnahmen mit den inzwischen gestorbenen Schriftstellern Dieter Wellershoff oder Peter Kurzeck – auszeichnet, dass die Fragesteller nicht zu hören sind, vertraut auch bei Dieter Henrich ganz auf die Persönlichkeit und Präsenz des Sprechenden. Der Philosoph verknüpft Philosophie und Biografie zu einer lebensklugen Erzählung. Hier spricht jemand, der sich auch mit 90 Jahren noch wundern kann, der sich freut auf das, was noch Neues zu denken ist.
Henrich musste ein lebenslanges Trauma verarbeiten
Niemals trumpft Dieter Henrich auf mit seinem Wissen – aber er simplifiziert auch nicht. Er bleibt auf Augenhöhe mit Platon und Kant, ohne seine Zuhörer zurückzulassen. Die großen Fragen unseres Lebens und die der Philosophie – bei der er immer wieder Berührungspunkte zur Religion findet – entwickelt Henrich auch aus eigenen Lebenserfahrungen. Er berichtet von der „absoluten Katastrophe“, als zweijähriges Kind vier Monate in einem Krankenhaus gelegen zu haben – ein lebenslanges Trauma.
Für seine Eltern, von deren „Liebeskraft“ der alte Mann mit Rührung und Stolz erzählt, war der kleine Dieter nach zwei früh gestorbenen Geschwistern „die letzte Chance, ein Kind aufzuziehen“. Sein Vater starb, als er elf, seine Mutter, als der Philosophiedozent 30 war. Danach stürzte Henrich in eine „nihilistische Phase“, der er aber wieder entkommen konnte. Auch dank Hölderlin. „Er ist der Einzige, der gegen Beckett in mir obsiegend standhält.“
Eine anspruchsvolle Reise für Zuhörer
Ein erfülltes Gelehrtenleben (das er als „große Gnade“ empfindet) wird hier in bescheidener und freundlich-scharfsinniger Weise reflektiert. Alles, was ist, infrage zu stellen, sich selber die Nichtigkeit wie Einmaligkeit seines Daseins vorzeichnen zu können, zwischen den Polen Erkundung der Welt und Sich-Vertiefen zu vermitteln – Dieter Henrich nimmt seine Zuhörer mit auf eine anspruchsvolle Reise. Er befragt das Wesen von Erinnerung, grenzt seinen Begriff von „Ewigkeit“ ab gegen die Vorstellung von „unendlicher Dauer“; er untersucht das „Ichbewusstsein“ und befasst sich mit dem Glück. Als er sieben war und nach einem schönen Weihnachtsabend, überreich beschenkt, im Bett lag, weinte er angesichts des „vollendeten Glücks voller Trauer darüber, dass es vergangen war“, erzählt Henrich. Ein solches „Wissen von der Unüberbietbarkeit eines Glücksmoments“ ist für den Philosophen eine der prägenden Lebenserfahrungen aller Menschen. Dieter Henrich, heute 93 Jahre alt, spricht naturgemäß auch über den Abschied, den Tod. Sein Dasein empfindet er als „unverdient lang“, aber er kann von sich sagen: „Die Zeit, die mir gegeben ist, habe ich nicht verspielt oder verdämmert.“ Auf „das Abtreten“ fühlt er sich vorbereitet.
Von sich selbst wissen. Dieter Henrich erzählt über Erinnerung und Dankbarkeit. supposé. 2 CD, 21,29 Euro
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