Zeitreisen sind doch möglich, das weiß Michael Haugg nur zu gut. Monika Rasidovic auch. Und Andreas Geßler sowieso. Die Maschine, die es dazu braucht, sieht alles andere als modern aus: Mehr Rundungen als Kanten, meist bunt lackiert, sie stinkt nach Benzin – und macht einen Höllenlärm, wenn sie denn anspringt. Eine alte Vespa kann zicken, das weiß jeder. Aber wenn sie dann läuft: ein großer Spaß. Dann transportiert sie Menschen von A nach B und steht wie kein anderes Gefährt für das locker-leichte italienische Lebensgefühl auf zwei Rädern. Und es passiert dann auch das: Zweitakter gehört, gesehen oder gerochen, Erinnerungen ploppen auf, gedanklicher Zeitsprung in die Vergangenheit – bei einigen wenigen geht es sogar bis zu 75 Jahre zurück, als die allerersten Vespas über die Straßen knatterten. Jede Vespa hat ihre Geschichte, sagen Kenner. Machen wir uns auf die Suche.
Zeitsprung. Marokko 1991: Nachdem eine Vespa die legendäre Wüsten-Rallye Paris–Dakar mitgefahren ist, denken sich der Augsburger Michael Haugg und ein Freund: Können wir auch. Sie binden Zelt, Schlafsack und Werkzeug auf ihre Vespas und machen sich auf nach Marokko. Ihr erstes großes Abenteuer. Die Menschen schauen die beiden Mittzwanziger auf den ungewöhnlichen Gefährten an, als seien sie Außerirdische. Besonders Michaels lilafarbene Vespa kommt gut an, einer bietet ihm als Tausch zehn Kamele. Er lehnt ab. Man verkauft weder seine Liebe noch seine Freiheit. Außerdem wäre ein Rückflug nicht halb so spannend wie ein Rückgeknatter – selbst wenn ein Flugzeug irgendwie ein Verwandter der Vespa ist.
Zeitsprung. Italien 1946: Nach dem Zweiten Weltkrieg darf der Flugzeughersteller Piaggio keine Flugzeuge mehr bauen. Unternehmenschef Enrico Piaggio hat die Idee von einem günstigen Volksvehikel: ein motorisiertes Zweirad, auf dem bequem und sparsam große Strecken zurückgelegt werden können. Nachdem ein erster Entwurf missfällt, beauftragt er Corradino D’Ascanio, die Pläne zu überarbeiten. Der Flugzeugingenieur hat noch nie zuvor ein Zweirad gebaut – und denkt ganz neu.
Die Vespa wird zum Symbol für Aufbruch, Freiheit, Abenteuer
Sein Prototyp ist revolutionär: kettenloser Antrieb, kleine Räder, ein Vorderrad-Tragarm wie ein Flugzeugtragwerk, ein Beinschild als Wind-Wasser-Staub-Schutz, niedriger Einstieg für eine bequeme Sitzposition, auch mit Rock fahrbar. Als Enrico Piaggio den Entwurf sieht, soll er vor Begeisterung gerufen haben: „Sembra una vespa“ (Sieht aus wie eine Wespe). Laut, wendig, elegant und auffällig – am 23. April 1946 wird das Patent angemeldet, im toskanischen Pontedera startet die Serienproduktion. Die erste Vespa hat 98 Kubikzentimeter Hubraum, kostet 55.000 Lire – und ist kaum gefragt.
Das ändert sich erst, als 1948 die stärkere Vespa 125 auf den Markt kommt. Plötzlich wird die Vespa zum Symbol für den Aufbruch eines Landes und die Freiheit des Einzelnen. Als Anfang der 1950er Jahre auch noch Hollywood-Stars wie Audrey Hepburn und Gregory Peck auf einer Vespa abgelichtet werden, steht der Roller für „la dolce vita“ – das süße italienische Leben, von dem nun auch jenseits der Alpen mehr Menschen zwei Räder abhaben wollen. Da geht es los mit der Faszination und dem Rollerfieber. Bald wird die Vespa auch für das Abenteuer und das Unangepasste stehen. Was auch der legendäre freche Werbespruch transportiert: „Wer Vespa fährt, isst Äpfel.“ Kann denn Fahren Sünde sein?
Zeitsprung. Augsburg 2021: Corona setzt auch der Augsburger Rollerszene zu. Normalerweise trifft man sich im Frühjahr zu Hunderten zum Anrollern, im Spätsommer zum Abrollern. Dazwischen: Rollertreffen. Um sich zu sehen, Geschichten auszutauschen, Pizza zu essen und sich beim Schrauben zu helfen. Alles nicht möglich zurzeit. Digital sind viele weiterhin in Kontakt. Sieben schwingen sich für ein Interview auf Abstand auf den Roller und kommen hinter das Augsburger Rathaus.
Jede Vespa bekommt einen Namen
Sie sind alle um die 50 und kennen sich vom Roller-Kö, jenem legendären Treffpunkt am Augsburger Königsplatz vor dem ehemaligen Salamander-Schuhgeschäft. Daher auch das Salamander-Logo, das als Aufnäher auf dem Rücken von Andreas Geßlers alter Bomberjacke prangt. Sie ist übersät mit weiteren Aufnähern, jeder steht für ein Vespa-Erlebnis, eine Vespa-Geschichte, Vespa-Liebe. Etwa das 1000-Kilometer-Rennen von Mantua nach Rom, an dem der Augsburger 2017 teilnahm. Durch Süditalien ist er auch schon gekurvt. Er ist sogar Mitglied in einem Vespa-Klub am Gardasee.
Andere würden ihn als Vespa-verrückt bezeichnen, er selbst nennt sich sogar Vespa-Fanatiker. Er mag die bunten Farben und die runden Formen. Widerstand war zwecklos. Seine Mutter wuchs in Südtirol auf und „ist auf Vespa gesponnen“, Opa ist eine „Lampe Unten“ gefahren, eines der ersten Modelle, das die Lampe noch unten auf dem Vorderradschutzblech hatte. „Jeder in meinem Umfeld hatte einen Roller.“ Er hat heute fünfeinhalb – der halbe ist wirklich durchgesägt und steht im Büro.
Jede seiner Vespas hat einen Namen, schließlich habe eine Vespa Persönlichkeit. Da wird Zeit und Liebe reingesteckt. „Die letzte Vespa wollte ich eigentlich gleich weiterverkaufen. Als ich ihr aber einen Namen gab, wusste meine Frau sofort, die bleibt jetzt auch“, erzählt Andreas Geßler lachend. Heute hat er „Den Eisernen Franz“ aus der Garage geholt, ein T3-Modell Baujahr 1958, seine Augsburg-Vespa.
Zeitsprung. Augsburg 1955: Augsburg wird zur deutschen Vespa-Hauptstadt. Nachdem der Fahrradhersteller Hoffmann aus Lintorf bei Düsseldorf eine Vespa namens „Königin“ eigenmächtig weiterentwickelt hat, entzieht Piaggio ihr die Produktionslizenz und gibt sie dem Ex-Flugzeughersteller Messerschmitt. Im Messerschmitt-Werk in Augsburg-Haunstetten werden fortan Vespas montiert. 1957 zieht sich Messerschmitt aus der Produktion zurück und die „Vespa Augsburg GmbH“ wird gegründet, bei der bis 1963 Vespas vom Band laufen. Typisch für die Augsburg-Vespa ist das filigrane Schwanenhals-Rücklicht.
Zeitsprung. Augsburg 2021: Nach und nach rollern alle an, man hört sie schon von Weitem. Andreas Frey ist mit seiner blauen „Fuffi“ gekommen, wie die Vespas mit 50 Kubikzentimetern Hubraum genannt werden. Er hat daheim auch eine der unter Sammlern heiß begehrten „Königinnen“ stehen. Aber „Bauer Bitz“, wie er seinen Roller im Spaß nennt, mag er lieber. „Die Fuffi ist die Schönste aller Vespas, wenn sie nicht so schlimm zum Schrauben wäre. Dazu braucht man kleine Hände.“ Hat er nicht. Schraubt trotzdem weiter. Gehört ja dazu. Macht ja Spaß, und jede Vespa einzigartig. Kann aber auch nerven.
Von Zusammenhalt und ganz viel Schrauberei
„Du ist immer am Schrauben und ein bisschen Nervenkitzel ist auch immer dabei, weil du nie weißt, ob sie auch läuft“, sagt Bernd Heigl, der mit seiner roten PX gekommen ist. Bei Monika Rasidovics selbstbesprühter Camouflage-Vespa namens „Das Tier“ läuft’s heute nicht rund. Kurze Motorpanne unterwegs. Als sie und ihre Schwester Mary etwas später anknattern, greift Andreas Geßler gleich zum Werkzeug und schaut, was los war. „Mich fasziniert am meisten der Zusammenhalt der Leute, die Technik, jeder kann jedem helfen“, sagt Andreas Frey währenddessen und zeigt seine alten Roller-Kö-Fotos im Hochformat- Fächer-Album, original 80er-Stil.
Zeitsprung. Augsburg 1985: Der Kö, also der Königsplatz, wird zum Treffpunkt für Rollerfahrer und Möchtegern-Rollerfahrer. Zunächst nur am Wochenende, ab 1986 jeden Abend. 80 bis 100 Leute. Motorisiert dabei Mitte der 80er sind Andreas Geßler, Andreas Frey, Michael Haugg und Bernd Heigl.
Monika und Mary Rasidovic tauchen ab Ende der 80er regelmäßig auf, weil dort die coolen Jungs abhängen: Popper in Benetton-Pullis, ein paar Mods mit Parka und auch New Waver – allesamt nicht gerne gesehen in der Augsburger 80er-Moped-Szene. Da fliegen schon mal Bierflaschen. Auch die Polizei hat ein Auge auf die Apfelesser von Augsburg, von denen einige Verkehrssünden begehen und an der Leistung ihrer Roller herumschrauben. Wer vom „Rollerjäger von Augsburg“ erwischt wird, muss später als Strafe im Zoo ausmisten: Elefantenstall, Gepardenkäfig…
Zeitsprung. Augsburg 2021: Die Sonne kommt raus. Passanten gucken, lächeln, bleiben kurz stehen, bestaunen die Roller. Ein Hauch Italien weht über den Platz hinter dem Renaissance-Rathaus. „Rollerfahren ist Freiheit, ist ein Lebensgefühl. Da gibt es kein Corona, keine Probleme, wenn ich auf dem Tier sitze“, sagt Monika Rasidovic. Jan Moser parkt seine französische Vespa Baujahr 1954 samt Beiwagen auf dem Elias-Holl-Platz. Mit dem Gespann transportiert er ab und zu auch seine Kinder, die auch in ein paar Jahren Roller fahren wollen.
Der Kult um die Vespa verbindet
Die nächste Generation im Klub der bis heute 20 Millionen Vespas steht also schon in den Startlöchern. Schrauben, knattern, Geschichten sammeln. Am Roller-Kö, der nach seiner Auflösung 1995 Ende der Nullerjahre wiederbelebt wurde, tauchen auch immer mehr Jüngere auf. Der Kult verbindet. „Wir haben erst bei Andis Fünfzigstem gesagt: Wer hätte damals gedacht, dass wir uns in 30 Jahren noch kennen und alle noch Vespa fahren“, sagt Monika Rasidovic. Die knatternde Zeitmaschine funktioniert. Auch Richtung Zukunft.
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Lesetipp: Günther Uhlig: „Vespa – Die Geschichte des Kultklassikers“ (Motorbuch-Verlag, 312 S., 29,90 Euro)