Um den berühmtesten Literaturkritiker des Landes, der heute 90 Jahre alt wird, ist es zwar etwas ruhiger geworden. Doch "MRR" schreibt weiterhin seine Zeitungskolumnen. Und es kann immer vorkommen, dass er mit intellektueller Brillanz und voller polternder Streitlust eine Diskussionslawine lostritt.
Zuletzt geschah dies vor eineinhalb Jahren, als er im ZDF vor laufenden Kameras den Deutschen Fernsehpreis ablehnte, weil er ein Zeichen gegen den täglichen "Blödsinn" auf der Mattscheibe setzen wollte. Dabei war es das Fernsehen, dass mit dem "Literarischen Quartett" Reich-Ranicki zum großen Entertainer gemacht hatte. Nur wenige können mit den Möglichkeiten des Massenmediums so gekonnt umgehen wie "MRR". Nicht zufällig gehört Thomas Gottschalk zu seinen größten Verehrern.
Seine durchdringende, leicht krächzende Stimme und sein fuchtelnder Zeigefinger sind zu Markenzeichen Reich-Ranickis geworden. Keiner kann Bücher - nicht nur im Fernsehen - so verreißen oder in den Himmel loben. Nie zimperlich, immer streitbar, manchmal aggressiv und schulmeisterlich, oft witzig und pointiert. "MRR" ist nicht nur einer der besten Kenner der deutschen Literatur, er ist selbst auch ein großer Erzähler. Bei einem so bewegten Leben auch kein Wunder: Seine 1999 veröffentlichte Autobiografie hat sich millionenfach verkauft.
Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel geboren. Vater David war Kaufmann, ein polnischer Jude. Die Mutter Helene war deutsche Jüdin. Nach dem Konkurs des väterlichen Betrieb siedelte die Familie 1929 nach Berlin um. In Deutschland durfte der junge Marcel aber nicht studieren - die Nazis wiesen ihn 1938 nach dem Abitur nach Polen aus. Im Warschauer Ghetto gelang ihm 1943 mit seiner Frau Tosia die Flucht. Beide überleben im Untergrund. Eltern und Schwiegereltern kamen in den Vernichtungslagern um.
Über die Tätigkeit in Polens kommunistischem Geheimdienst und im diplomatischen Dienst kehrte Reich-Ranicki 1949 zurück nach Warschau. 1950 wurde er aus seinen Ämtern entlassen, und aus der KP wegen "ideologischer Fremdheit" ausgeschlossen. Schon lange ein Liebhaber deutscher Literatur, begann er als Lektor und freier Schriftsteller zu arbeiten. 1958 kam er für immer nach Deutschland und machte sich als scharfzüngiger Kritiker bei der "Zeit" in Hamburg einen Namen. Von 1973 bis 1988 leitete er die Literaturredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Das große Publikum fand der Literaturpapst aber erst 1988, als das "Literarische Quartett" im ZDF startete. Von 1988 an bis 2001 wurden unter der Moderation von Reich-Ranicki rund 400 Bücher besprochen und oft zu Bestsellern gemacht. Nach einer Sondersendung des "Quartetts" Anfang 2006 zum 150. Todestag von Heinrich Heine, dem Lieblingsautor von "MRR", wurde dieser mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus gekommen. Seitdem ist Reich-Ranicki gesundheitlich angeschlagen, er darf auch nicht mehr fliegen. Das tut ihm weh - nicht nur weil er nicht Tel Aviv besuchen kann, wo ein nach ihm benannter Stiftungs-Lehrstuhl für deutsche Literatur eingerichtet wurde. "Ich würde auch gerne mal wieder nach Amerika reisen", sagt "MRR" der dpa.
Der Kritiker gilt als Arbeitstier - auch heute noch. Es scheint fast so, als müsse er damit die schmerzlichen Gedanken an die eigene Vergänglichkeit vertreiben. Gelassenheit im Alter ist nicht unbedingt seine Sache, wie er in Interviews eingeräumt hat. Die Angst vor dem Tod bleibt. "Ich denke täglich daran", sagte Reich-Ranicki, der nicht an Gott glaubt, dem "Focus". Schon bei der Feier zu seinem 85. Geburtstag wurde "MRR", der mit seiner Frau Tosia seit vielen Jahren in Frankfurt lebt, von tiefer Melancholie überfallen. Er sei kein glücklicher Mensch, meinte er damals.
Der Einzelkämpfer "MRR" hat sich immer auch als Außenseiter verstanden. Bei Schriftstellern hat er sich mit seinen harschen Urteilen wenig Freunde gemacht - mit Günter Grass kam es erst im Oktober 2007 wieder zu einer Annäherung, als Reich-Ranicki ihn als "nach wie vor bedeutendsten deutschen Schriftsteller" bezeichnete. Eine Aussöhnung mit Martin Walser, der nach einem herben Verriss eines Romans im Jahr 1976 mit Reich-Ranicki brach, steht immer noch aus. Das Zerwürfnis gipfelte 2002 in Walsers Skandalbuch "Tod eines Kritikers", das wegen Antisemitismusvorwürfen beinahe nicht gedruckt worden wäre. Darin kommt ein jüdischer Literaturkritiker zu Tode, unschwer als "MRR" zu erkennen. Reich-Ranicki und seine Frau fühlten sich "tief getroffen".
Reich-Ranicki möchte von Walser eine Entschuldigung, wie er der dpa sagt. Er könnte sich ein Treffen mit dem Schriftsteller vorstellen, "wenn er bedauern würde, was er getan hat". Das letzte Kapitel in der Geschichte der beiden großen alten Männer der deutschen Nachkriegsliteratur scheint also nicht geschrieben.
Um die jüngere deutsche Literatur-Szene kümmert sich "MRR" nicht mehr besonders, wie der Kritiker sagt. Aber er führt sein Projekt der "Frankfurter Anthologie" fort. Jedes Jahr erscheint ein Band mit 50 kommentierten Gedichten - der 34. ist in Arbeit.
Zum 90. Geburtstag wird der Literaturkritiker gleich mehrfach gefeiert. Im Jüdischen Museum in Frankfurt wurde eine Ausstellung eröffnet, für die Reich-Ranicki ihm persönlich gewidmete Bücher aus seiner Privatbibliothek zur Verfügung gestellt hat - von Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll über Nelly Sachs bis zu John Updike.
Am 6. Juni beehrt die TV-Prominenz den Jubilar: Nicht nur Thomas Gottschalk reist zur Verleihung der Ludwig-Börne-Medaille an Reich- Ranicki in der Frankfurter Paulskirche an. Auch Harald Schmidt kommt - und wird am Klavier Brecht-Lieder zum Besten geben. Das ZDF überträgt live. Und man darf davon ausgehen, dass Reich-Ranicki dieses Mal die Huldigungen des Fernsehens gerne entgegennimmt.