Dramatiker des Weltuntergangs
Zum Tod des großen Theatermanns, der auch sich selbst nicht als Arzt begriff, sondern als Schmerz
Über den „entsetzlichen Zustand der Welt“ hat sich Tankred Dorst nie Illusionen gemacht. „Das Heillose ist für den Dramatiker segensreich, da es ihn mit Stoff versorgt“, sagte der Stückeschreiber einmal. Und so wurde auch ihm die Welt mit ihren Visionen und Konflikten ein unerschöpflicher Fundus für die Theaterarbeit. Gestern ist der große Geschichtensammler mit 91 Jahren in seiner Wahlheimat Berlin gestorben.
Mehr als 50 Stücke hat Dorst in den vergangenen 50 Jahren geschrieben – er war einer der bedeutendsten und produktivsten Autoren des deutschen Gegenwartstheaters. Noch bei der anrührenden Feier zu seinem 90. Geburtstag im Haus der Berliner Festspiele erklärte er 2015, er arbeite an einem neuen Stück. Bis zuletzt ließ er sich, leise und hochinteressiert, bei Ereignissen in der Hauptstadt sehen – etwa im Haus von Ulla Unseld-Berkéwicz, einst Chefin des ihm verbundenen Suhrkamp-Verlags.
Dorsts Meisterwerk ist bis heute das Antikriegsstück „Merlin oder Das wüste Land“, das 1981 am Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere feierte. Die Neuauflage der Artus-Sage um den Zauberer und Teufelssohn Merlin ist mit fast 400 Seiten, 97 Szenen und zehn Stunden Dauer eine Herausforderung für jeden Regisseur. „Ein grandioser Weltuntergangsentwurf wie Wagners Ring“, befand Die Zeit einst.
Weltuntergang – das war früh Dorsts Lebensthema. Der Vater, ein Fabrikant aus dem thüringischen Oberlind, starb, als der Junge sechs war. Mit 17 wird er kurz vor Kriegsende an die Westfront geschickt und gerät langjährig in US-Gefangenschaft. Zurück in der Heimat ist er entwurzelt und orientierungslos – bis während des Studiums die Arbeit an einem Münchner Marionettentheater für Erwachsene die Wende bringt. Schon bei seinem ersten großen Stück „Die Kurve“, 1960 in Lübeck uraufgeführt, wird der Westdeutsche Rundfunk aufmerksam. Kurz darauf beginnt die langjährige, produktive Zusammenarbeit mit Regisseur Peter Zadek.
Werke wie „Toller“, „Eiszeit“ und „Auf dem Chimborazo“ kommen auf die Bühne, später folgen „Korbes“, „Karlos“ und „Herr Paul“. Auch Filme wie „Eisenhans“ entstehen. „In unseren Dezennien“, sagte Laudator Georg Hensel 1990 bei der Verleihung des Büchner-Preises, „hat kein anderer deutscher Stückeschreiber so viele Tonarten, eine solche Orgelbreite: sentimental, treuherzig, tollpatschig, gefühlvoll, humorvoll, ironisch, sarkastisch, zynisch-ordinär, hundsgemein – und immer taghell.“ Ein „schwarzer Faden“ blieb Dorst durch die unterschiedlichsten Formen hindurch das Scheitern des Menschen an seiner Utopie.
Seit den 70er Jahren war die 15 Jahre jüngere Drehbuchautorin und Regieassistentin Ursula Ehler das Alter Ego von Dorst. Sie wurde auch seine Frau und Co-Autorin. Spät, als 80-Jähriger, gab Tankred Dorst 2006 mit einer Neuinszenierung von Wagners „Ring“ in Bayreuth sein (glückloses) Debüt als Opernregisseur. An einem Motto hielt er immer fest: „Über das Portal meines Theaters würde ich schreiben: Wir sind nicht die Ärzte, wir sind der Schmerz.“ (dpa)
Die Diskussion ist geschlossen.