Eintritt beispielhaft ins aktuellste Treiben: Da zeigt eine neue EU-Studie, dass Menschen, vor allem jüngere, sich wahrscheinlicher einsam fühlen, je mehr Zeit sie in den angeblich „Sozialen Medien“ verbringen; da mischt in Rumänien ein rechtsextremer Tiktoker die Präsidentschaftswahlen auf; viral ist derzeit bei jungen Männern der Trend des „looksmaxxing“, bei dem extra harte Kaugummis gekaut und mit zugeklebtem Mund geschlafen wird, weil das zu attraktiveren Gesichtszügen führen soll, die wiederum vom Dating bis zur Karriere Vorteile bringen sollen; auf X sorgt die Influencerin Larissa Wagner – 22 Jahre alt, aus Sentenberg, gläubige Christin, Diesel fahrend und gerne daheim kochend – für viel Herzklopfen rechts, ist aber kein Mensch, sondern eine mit betont attraktivem Aussehen generierte Künstliche Intelligenz, die Männerfantasie eines rechtsextremistischen Magazins …
Etwa 2,6 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen erfüllen die Kriterien für eine Abhängigkeit
Generell gilt inzwischen: Nach einer DAK-Studie erfüllen 2,6 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen in Deutschland – sie verbringen im Schnitt rund zweieinhalb Stunden täglich in „Sozialen Medien“ – die Kriterien für eine Abhängigkeit nach der „Social Media Disorder Scale“; in den USA gelten konservativen Schätzungen zufolge zehn Prozent der Bevölkerung als „social-media-süchtig“; in Australien sind sich Regierung und Opposition einig, den Zugang zu sogenannten „Sozialen Medien“ gesetzlich erst ab 16 zu erlauben.
Und damit Auftritt des Philosophen Markus Gabriel. Der ist eigentlich ein liberaler Geist, hat aktuell etwa ein Buch über „ethischen Kapitalismus“ vorgelegt. In dem erklärt er, dass das, was sich auf den freien Märkten durchsetzt, tatsächlich in aller Regel ein gutes Produkt ist, insofern es ein Problem der Gesellschaft löst. Das habe auch für die „Sozialen Medien“ zugetroffen, und zwar ganz egal, ob Mark Zuckerberg selbst düstere Absichten damit gehabt habe. Mit Gabriels älterem Kollegen Jürgen Habermas gesprochen: Da wurde ein Raum für Diskursfreiheit eröffnet, in den sich alle gleichermaßen einbringen konnten mit Informationen und Meinungen, hierarchiefrei, eine potenziell grunddemokratische Entwicklung, weil sich dort abseits aller Macht und Lobby womöglich endlich die Kraft des besseren Arguments durchsetzen könnte. Eigentlich. Daraus aber sei, so Gabriel, leider ganz anderes geworden. Darum sei es jetzt (da übrigens in zahlreichen Ländern, die nicht Deutschland sind, Handys an Schulen verboten sind, während diese das in Deutschland selbst irgendwie pädagogisch lösen und dabei möglichst auch noch in der Digitalisierung fortschreiten sollen) an der Zeit, mindestens über Schritte wie in Australien nachzudenken. Im Grunde genommen wäre sogar über eine allgemeine Schließung der längst überbordend asozial gewordenen Kanäle nachzudenken. Um des Seelenheils der Einzelnen willen, an deren Süchtigmachung möglichst von der Kindheitsprägung an die reichsten und mächtigsten Firmen der Welt mit allen Mitteln arbeiten. Wie auch um der Gesellschaften willen, die in Echokammern fragmentiert und emotionalisiert, die verroht und radikalisiert werden durch die algorithmisch optimierte Beförderung des Allzumenschlichen, aber eben nicht gerade Demokratischen, das gerade in schwierigen, (über)fordernden Zeiten auch in ihnen waltet. Aber weil weder mit einer durchgreifenden Regulierung noch mit einer Schließung zu rechnen sei (höchstens mit einzelnen, kleinen Abwehrkämpfen wie zuletzt dem Brasiliens gegen Elon Musk und X), müssten zumindest die größten Player auf dem klassischen europäischen Medienmarkt zusammen für eine wahrhaft demokratische Alternative sorgen, ein echten „Soziales Medium“ zum Wohle der Gesellschaften. Idyllische Träumerei gegen entfesseltes Monstrum? Oder: Ist das nicht alles fürchterlich übertrieben?
Und damit zum Abtritt von Angela Merkel, die ja gerade, von „Freiheit“ schreibend, viral geht, indem sie keinerlei Fehler in ihrer Kanzlerschaft sieht – und die zumindest mit dem bis heute recht hat, wofür sie vor gut zehn Jahren sehr belächelt wurde: als sie nämlich sagte, das Internet sei Neuland „für uns alle“. Vor Risiken und Nebenwirkungen wäre jedenfalls längst zu warnen.
Das Schlechte am Produkt ist nicht allein den Zuckerbergs und Musks anzulasten
Dass die „Sozialen Medien“ sich zur Seuche entwickeln ist jedenfalls an reichlich Symptome abzulesen, die Infektionen wirken längst durch die Verlagerung von Aufmerksamkeit und Geschäft in die klassischen Medien hinein, die sich ja auch selbst im freien Markt der Klicks und Bezahlinhalte zugespitzt behaupten müssen. Aber so wenig die Zuckerbergs und Musks das ursprünglich Gute am Produkt gewollte haben mögen, so wenig ist ihnen das nun Schlechte daran allein anzulasten. Die neuen Kanäle offenbaren vielleicht einfach die ungezügelte menschliche Natur. Und vielleicht hatten ja auch die alten Griechen recht, als sie meinten, Demokratie sei eigentlich nur im Kommunalen geeignet, wo man sich tatsächlich in einem öffentlichen Raum treffen und kennenlernen kann.
Bloß: Hätte jemand eine weniger schlechte Lösung, um die es sich zu kämpfen lohnte? Und wer, wenn nicht Europa sollte für eine gesunde Alternative sorgen zum reinen höllischen Entweder-Oder zwischen totaler staatlicher (Daten-)Kontrolle in China und fataler kapitalistischer Ausschlachtung nach Art der US-Plattformen? Und wer, wenn nicht jeder und jede Einzelne darin trägt Verantwortung mit den eigenen Klicks? Es geht um nichts weniger als die Freiheit.
Das Bild zeigt doch sehr eindeutig, um was es hier geht. Scheinbar ist die Masse der Kinder in keiner Weise mehr kommunikationsfähig. Ein miteinander Reden bzw. miteinander Spielen findet doch nicht mehr statt. Aber einen Großteil der Schuld tragen auch die Eltern. Warum muss einen fast noch Kleinkind ein Smartphone gekauft werden? Warum kann man sich nicht intensiv mit den Kindern beschäftigen? Warum gibt es nicht mehr kindgerechte Freizeitangebote und Freizeitstätten? Wo sind die Abenteuerspielplätze von früher geblieben? Liese sich beliebig fortsetzen.
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