Herzlichen Glückwunsch zum Douglas Sirk Preis, der Ihnen in Hamburg verliehen wurde. In der internationalen Presse nennt man Sie schon "The Awardist". Erleben Sie gerade die Zeit Ihres Lebens?
SANDRA HÜLLER: Professionell gesehen ja, wahrscheinlich. Ich bin sehr dankbar für all die Dinge, die gerade passieren. Das ist definitiv außergewöhnlich und wird sich wahrscheinlich in der Form auch nie wiederholen. Deswegen versuche ich das jetzt alles zu genießen.
Das Branchenblatt The Hollywood Reporter hat Sie auf dem Titel als "Actress of the Year" bezeichnet ...
HÜLLER: ... mit Fragezeichen!
Ist Ihnen das Fragezeichen wichtig gewesen?
HÜLLER: Natürlich! Es ist nur eine Frage!
Es gab aber auch viele Ausrufezeichen in anderen Kontexten. Erstens die Goldene Palme für Regisseurin Justine Triet, deren Film Sie dominieren. Dann waren Sie in Cannes, dem wichtigsten Filmfest der Welt, sogar noch im zweiten Film im Wettbewerb zu sehen. Nämlich auch in Jonathan Glazers "Zone of Interest". Wie kam es zu dieser Häufung, und wie haben Sie diese Rarität aus Ihrer Perspektive empfunden?
HÜLLER: Die Häufung ist tatsächlich Zufall. Die Filme wurden im Abstand von einem dreiviertel Jahr voneinander gedreht und waren dann zum selben Zeitpunkt so weit fertig. Ich weiß, dass Jonathan Glazer sich kurzfristig entschieden hatte, den Film einzureichen. Ich wusste gar nichts von den Plänen. Das war also alles eine große Überraschung, als ich erfuhr, dass beide Filme nicht nur eingereicht sind, sondern auch dorthin gehen. Das hat niemand kommen sehen.
Und plötzlich mussten Sie den Koffer für mindestens eine Woche in Cannes packen?
HÜLLER: Ich glaube, es waren fünf Tage ...
Wie haben Sie diese kumulierte Beachtung durch zwei Filme erlebt?
HÜLLER: Es gab einfach sehr viel Aufmerksamkeit. Aber beide Filme sind außergewöhnlich gute Filme. Mir war wichtig, dass beide Filme gleich viel Zeit bekamen, damit über beide paritätisch berichtet werden konnte. Das war eine ziemlich organisatorische Leistung von den betreuenden Teams, aber hat zum Glück gut funktioniert.
Hat Triets Goldene Palme für Sie kompensiert, dass 2016 "Toni Erdmann" enttäuschenderweise leer ausging?
HÜLLER: Darüber denke ich nicht nach. Die Jury wird ihre Gründe gehabt haben. Ich weiß, dass die Presse damals bei "Toni Erdmann" alle möglichen Szenarien erfunden hat, was passiert sein könnte. Nichts davon ist wahr. Die mochten einfach den Film nicht, und das ist total legitim.
Ist es Zufall, dass Sie jetzt so einen Spaß an internationalen Produktionen haben? Haben Sie das bewusst gesucht oder wodurch wurde das getriggert?
HÜLLER: Ich kann das nicht suchen, sondern bin angewiesen auf die Fantasie anderer Leute. Und jetzt gerade hat sich das irgendwie gefügt. Ich stehe nicht auf und denke "jetzt möchte ich echt gern mal wieder einen Film im Ausland drehen". Ich unternehme nichts dafür oder dagegen.
In Justine Triets letztem Film "Sybil" spielten Sie auch mit. Wie lernten Sie sich kennen?
HÜLLER: Ich kenne Justine seit 2012, als sie für ihren Kurzfilm auf der Berlinale ausgezeichnet wurde. Ich saß damals in der Jury und war von ihrem Film begeistert. Da sind wir uns zum ersten Mal begegnet, aber ich habe ihre darauffolgenden Filme alle verfolgt und finde es wahnsinnig toll, was sie macht. Ich bin ein großer Fan ihrer Arbeit. Sie hat meine Arbeiten auch gesehen und hat mir irgendwann "Sybil" angeboten. Bei diesem Dreh hat sie mir ein anderes Projekt angekündigt, bei dem wir dann "noch mehr Zeit miteinander verbringen werden" – mehr verriet sie nicht. Und eines Tages kam dann dieses Drehbuch.
"Anatomie eines Falls" ist ein Koloss. War es eine Tour de Force für Sie?
HÜLLER: Also, das war eine sehr intensive Arbeit, das stimmt. Aber sie war gut vorbereitet. Wir haben das Stück für Stück gemacht, waren sehr genau, und deswegen hat es sich eigentlich nie überwältigend oder unbewältigbar angefühlt.
Auch nicht sprachlich? Hier sprechen Sie Englisch und Französisch. Empfinden Sie es als ein anderes Arbeiten, ob Sie auf Englisch, Französisch oder Deutsch spielen?
HÜLLER: Sehr viel anders nicht. Die Annäherung an andere Figuren, Gedanken, Welten oder Lebenswelten ist immer ähnlich, nur die Vorbereitung ist anders. Aber natürlich bringt die Sprache noch etwas anderes dazu, das schafft auch eine Art Filter, weil ja die Dinge immer übersetzt sind, in mir oder nach außen.
Ihre Figur wird demontiert, verdreht, zerlegt – das tut beim Betrachten geradezu weh. Wickeln Sie hingegen das Spielen so professionell ab, dass es für Sie gar nicht so ein Drama ist?
HÜLLER: Das Thema hat mich sehr beschäftigt, und ich habe die Rolle auch sehr persönlich genommen. Aber wir haben am Set auch alle möglichen Varianten der Szenen gedreht, daher habe ich es einfach als sehr bereichernd und befriedigend empfunden, so viele Facetten zeigen zu können.
Trotzdem war es eine persönliche Arbeit. Inwiefern?
HÜLLER: Wegen der persönlichen Verbindung zu Regisseurin Justine Triet, die auch über diese Arbeit hinaus besteht. Wir sind Freundinnen, ja, und in diesem konkreten Fall auch als Komplizinnen. Wir teilen viele Auffassungen über die Welt. Ich glaube aber, dass ich jede Rolle persönlich nehme. Ich bewundere die Konsequenz, mit der die Figur ihren Weg geht. Mich hat beeindruckt, dass sie sich nicht entschuldigt für das, was sie ist – das ist mir in gewisser Weise auch Vorbild gewesen. Sie hat eine sehr große Stärke, die ich nicht immer habe. Das war faszinierend, ich empfand es als großen Genuss, da einzutauchen.
Wenn man eine Figur dieser Intensität spielt, wann fällt diese Figur wieder von einem ab? Wann merken Sie, was diese Figur Ihnen abgefordert hat und wie viel Kraft das gekostet hat?
HÜLLER: Ich bin niemand, der mit der Figur weiter herumläuft, wenn die Kamera aus ist. Ich bin durchaus eine Privatperson, wenn ich nicht drehe. Sobald ich das Kostüm ausziehe und mich abschminke, ist das auch wieder gut. Natürlich sitze ich abends da und lerne den Text für den nächsten Tag, das heißt, die Beschäftigung damit geht weiter. Bei mir ist es nach einem langen oder intensiven Dreh so , dass meine Chemie sich einfach wieder runterfahren muss auf normal. Das Adrenalin muss raus, und das Dopamin, was man da jeden Tag durch Bestätigung bekommt, das muss alles wieder runtergefahren werden auf ein normales Niveau. Das dauert so zwei bis drei Wochen...
Es klingt wie ein Entzug.
HÜLLER: Das ist auch so. Nicht in dem Sinne, dass man süchtig ist. Aber ich weiß mittlerweile, dass mein Körper manchmal komische Sachen macht und dass ich zu Hause eine Weile brauche, um von diesem Level der Konzentration und Aufregung wieder runterzukommen.
Was zum Beispiel sind diese Symptome?
HÜLLER: Na ja, es ist eben alles noch ein bisschen schneller, wie beim Dreh. Es gibt weniger Schlaf, die Nächte sind kurz, die Tage sind lang, das Essen ist unregelmäßig, der Kaffeekonsum ist viel höher – weil permanente Leistung abgefragt wird. Und permanente Beachtung.
Gibt es Routinen, die Ihnen helfen, wieder bei sich anzukommen?
HÜLLER: Der Alltag macht das von ganz allein ... (lacht)
Man geht ja schon fast automatisch davon aus, dass deutsche Schauspieler in Berlin wohnen, am Prenzlauer Berg. Sie leben in Leipzig. Was verbindet Sie mit der Stadt?
HÜLLER: (lacht) Ich kenne viele Kolleg*innen, die nicht nur in Berlin wohnen. Bei mir waren es familiäre Gründe, mehr kann ich dazu gar nicht sagen.
Ihr Beruf, schon Ihre Engagements am Theater, fordern Ihnen eine Art Nomadentum ab. Was machen Sie, um sich dann über Wochen in einem Hotelzimmer zu Hause zu fühlen?
HÜLLER: Das gibt's dann einfach nicht. Also mein Zuhause ist mein Zuhause, und das andere ist mein Arbeitsort und der Raum, wo ich übernachte. Ich glaube, es ist wichtig, einfach einen Rückzugsort zu haben, an dem man sich entspannen kann, vorbereiten kann und zu dem niemand Zutritt hat, wenn man das nicht will.
Man kann sich nicht vorstellen, Sie in einer Homestory das Sofakissen zurecht schütteln zu sehen. Ist es Ihnen wichtig, dass Sie den Menschen Sandra Hüller hinter einer relativ verschlossenen Tür lassen können?
HÜLLER: Das wird es auch nie geben. Mein Privatraum ist mein Privatraum, und das bleibt auch so.
Aus Schutz für Ihre Familie – oder aus Schutz für sich?
HÜLLER: Ich halt beides für notwendig. Der Beruf ist der Beruf, und das Leben ist das Leben, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das war für mich schon immer so. Als das Interesse an meiner Person gewachsen ist, etwa zur Zeit, als ich "Requiem" gedreht hatte, 2006, habe ich gemerkt, dass ich das nicht befriedigen möchte. Ich rede gerne über die Arbeit, aber eben nicht so gerne über mich oder mein Leben.
Derzeit wird gemunkelt, Sie könnten für einen Oscar als beste Schauspielerin nominiert werden. Finden Sie das verwerflich oder empfinden Sie es als angenehmes Kompliment?
HÜLLER: (Pause) Erst mal ist vollkommen klar: Das ist Spekulation. Ich glaube, ich bleibe da ganz sachlich. Dann gibt es natürlich in der amerikanischen Filmindustrie ein festes Ritual, dass jetzt die Vorbereitungen für diese Zeremonien anlaufen. Sobald man da an einem bestimmten Punkt angekommen ist, läuft diese Maschinerie an. Wir sind jetzt mit "Anatomy of a Fall" irgendwie Teil davon geworden. Ich versuche meine Arbeit einfach gut zu machen, und alles, was dann kommt, werden wir sehen.
Zur Person
Sandra Hüller, geboren am 30. April 1978 in Suhl, machte immer wieder mit exzellenten Leistungen auf sich aufmerksam, ob in "Requiem", "Anonyma", "Finsterworld" und natürlich Publikumsliebling "Toni Erdmann". Doch dieses Jahr ist für die 45-jährige Charakterdarstellerin herausragend: Sie bekleidete Hauptrollen in zwei internationalen Filmen, Jonathan Glazers "Zone of Interest" und Justine Triets "Anatomie eines Falls", die beide in den Wettbewerb von Cannes eingeladen und hoch prämiert wurden: "Zone of Interest" mit dem Großen Preis der Jury, der jetzt startende "Anatomie eines Falls" mit der Goldenen Palme. Seitdem prasselt ein wahrer Preisregen auf Hüller nieder, der sogar bis zum Oscar führen könnte. Zweimal ist Hüller für den Europäischen Filmpreis nominiert. Aktuell ist Hüller im Kino in "Anatomie eines Falls" zu sehen, in dem sie eine Frau unter Mordverdacht spielt.