Von Wildschweinen und Liebe: Das Buch "Schlachtensee" von Helene Hegemann
Tierisch menschlich: Helene Hegemann legt in "Schlachtensee: Stories" fünfzehn Kurzgeschichten vor. Zwölf Jahre nach ihrem Debüt-Roman "Axolotl Roadkill".
Was Liebe nicht alles sein soll: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf …“ – schön, werden die Bibelfesten jetzt sagen, erster Brief an die Korinther, das „Hohelied der Liebe“. Aber Hand aufs pumpende Herz, so rein und pur verhält sich Liebe nicht immer. Manchmal, da tritt sie auch in Gestalt einer echten Wildsau auf. Ja, genau so: wie eine Rotte Wildschweine, die einen nachts beim Baden am Dorf-Baggersee urplötzlich überfällt, überwältigt.
Genau in diese Klemme, diese lebensgefährliche Lage, steckt die Autorin Helene Hegemann zwei Helden in einer ihrer Kurzgeschichten. Irgendwo im ostdeutschen Kurz-vor-Nirgendwo, da verlieben sich zwei sehr junge, sehr coole Männer ineinander. Sie wissen nur nicht wohin mit diesem ungewollten, mächtigen, furchteinflößenden Gefühl. Und gerade als die Situation ins Romantische zu kippen droht, da attackieren Schweine das Paar am See – oder haben sie das alles nur geträumt? Halluzination im Rausch?
Die Wildschweine toben durch Helene Hegemanns "Schlachtensee"
„Die Wildschweine sind riesig, sie sehen aus wie Zeppeline auf Kokain“, schreibt Hegemann. Das Tier als ein ziemlich originelles Bild dafür, wie wuchtig so eine Liebe sein kann – und wie gefährlich in einem drögen, feindlichen Nazi-Nest. Aber vor allem auch: wie komisch. Die Sau und die Liebe, das hat Ölschinken-Qualitäten, es ist eines der stärksten, widerborstigsten Bilder, die Helene Hegemann in ihren 15 Kurzgeschichten in ihrem neuen Buch „Schlachtensee: Stories“ malt.
Hegemann? Eine Rückblende: Die Feuilletons hatten sie 2010 schon als junges Schreibwunder hochgejazzt, sie liebten ihren ersten Roman „Axolotl Roadkill“ – bis Plagiatsvorwürfe aufkamen und das Talent schnell auf den harten Boden von Hass und Häme aufknallte. Sie war gerade 18 Jahre, ein literarischer Wildfang. Ihre Pubertät hatte sie an der Berliner Volksbühne durchlebt, nah bei ihrem Künstler-Vater, der dort seiner Arbeit nachging. Aber aus dem tiefen Kakao, durch den sie die Kritik mit ihrem Debüt-Skandal gezogen hat, ist sie schon lange wieder aufgetaucht.
Helene Hegemanns neues Buch verhandelt Alltags-Katastrophen
Nach Roman Nummer drei, „Bungalow“ (2018), schreibt die 30-Jährige jetzt in Kurzform. Dafür hat sie sich extra an ein stilles, titelgebendes Plätzchen zurückgezogen: an den Schlachtensee bei Berlin, im Grunewald. Keine Sorge, es kracht und blutet und bricht trotzdem wieder in, aus und um Hegemanns neue Figuren, so wie damals, als ihre „Axolotl-Roadkill“-Heldin Mifti im Stroboskop- und Drogen-Rausch viel zu jung durch die Bundeshauptstadt streunte. Aber es sind in „Schlachtensee“ diesmal vor allem normalsterbliche, alltägliche Katastrophen, denen sie nachfühlt.
Wesen wie die Wildschweine prägen die kurzen, Haken schlagenden Episoden. Die Tierwelt, die brutale Natur und auch das Kranke und Verwunderte im Menschen – das alles hievt sich die Autorin auf den OP-Tisch, um es zu sezieren. Mit dem Charme der Bosheit stellt sie in der Episode „Die Pfauengeschichte“ eine Diagnose: Diese Welt hat einen Vogel. Da reist eine junge Frau, Phoebe, ohne Zeit und Ziel hinab in den US-amerikanischen Süden und – beobachtet. Hier, in einem bräsigen Wohlstands-Villen-Milieu, hat sich ein Mord zugetragen. Ein Nachbar hat sich den prächtigen, stolzen Haus-Pfau des anderen Nachbarn geschnappt. „Der Pfau hat ihn genervt und er hat ihn deshalb mit einem Golfschläger erschlagen. Im Pyjama, nimmt Phoebe an.“
"Die Pfauengeschichte" zählt zu den Perlen in "Schlachtensee"
Und die Todesspur zieht sich gemütlich-morbid weiter durch den Text, ebenso die Doppelmoral und politische Verlotterung in der Vorstadt. Am Ende steht da ein urkomischer Vergleich, mit einem alten Pfau, der seine Prachtfedern schon verloren hat: „Der ganze Körper denkt, da wäre hinten noch was dran. Dabei ist da nichts mehr. Nur sein nackter alter Arsch. Und sollte Phoebe jemals eine bessere Metapher für den derzeitigen Zustand Nordamerikas gehört haben, dann hat sie sie guten Gewissens zugunsten dieser hier verdrängt.“
Hegemann sticht in die Wunden dieser Zeit. Nur eben nicht mit Mifti-Wut, sondern in einem Mix aus Ironie und Schicksalsergebenheit. Die schwulen Jungs verlieben sich ausgerechnet bei Schnellroda – dort, wo der extrem rechte Antaios-Verlag von Götz Kubitschek seinen Sitz hat. Und auch der Krieg klopft als Sujet an: „Wir unterhielten uns über irgendwas, verrückte Machthaber im Atomzeitalter, nehme ich an.“
Helene Hegemann schreibt mit einer gewissen Lust vom Elend
Nach dem Großstadtflimmern der Hegemann-Romane atmen diese Episoden sogar Alpenluft – um im Morast eines falschen Heimat-Idylls zu versinken. Zauberhaft schrecklich: Die Irrfahrt einer Frau von Welt, die mit der österreichischen Regionalbahn partout nicht am Ziel ankommt. Sie will sich mit Drogen wachhalten – und verpennt gleich mehrmals die Haltestelle ihres Heimatkaffs. Das Leid trifft jedermann und knallt dabei in schillernden Farben. Eine von der Lawine Verschüttete beschreibt ihren Blick aus der kleinen Lücke im Schnee: „Das Letzte, was sie sieht, bevor sie einpennt, sind Bäume. Kahle Äste in einem weißen Sturm. Schwarze Fasern, die zu Herzkranzgefäßen werden, zu ihren eigenen. Sie weiß, dass sie nicht einschlafen darf.“
Selten läuft diese Lust am Elend aus dem Ruder und suhlt sich in Posen. Eine russische Gangster-Posse samt Liebes-Dreieck gerät zur überdrehten, zähen Endlosanekdote. Aber Hegemann bläst zum Frontalangriff gegen die Kritik auf Seite 169: „Und wenn Sie alles, was jetzt kommt, für einen willkürlichen inneren Monolog halten, wenn Sie wünschten, das wäre ein wenig linearer, wenn Sie das als ungeregelte Aneinanderreihung von Fehlwahrnehmungen aburteilen, statt zu akzeptieren, dass es sich um eine Geschichte handelt, dann wissen Sie nicht, was Leben ist.“
Safran, Minute und Tschlix heißen die Figuren in "Schlachtensee"
In „Schlachtensee“ treten Figuren auf, die Safran, Minute, Tschlix heißen, was eher nach Ikea-Schlafcouch und Aquarellfarbkasten klingt. Die dicke Überraschung erwischt die Leserin dann aber im Déjà-vu: Sie erscheinen wieder, in späteren Episoden. Von diesen Figuren nicht abzuweichen, als Autorin, auch darin steckt viel Liebe.
Am Ende des Buchs stehen, wie ein Gag gegen Plagiatsverdacht, Zitatnachweise. Vielleicht wird das beim nächsten Hegemann-Werk schon überflüssig sein. Weil die nächste arme Wildsau durchs Feuilleton-Dorf getrieben wird – und weil sich diese Autorin behauptet.
Info: Helene Hegemann: Schlachtensee; Kiepenheuer & Witsch, 258 Seiten, 23 Euro.
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