Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

„Oslo Stories: Träume“ ist eine Film-Perle: Kino mit mitreißendem Einfühlungsvermögen

Kino

Kritik zu „Oslo Stories: Träume“: Dieser Film über eine erste Liebe gehört zu den Raritäten im Kinogeschäft

    • |
    • |
    • |
    Ane Dahl Torp und Ella Øverbye in einer Szene des Films „Oslo Stories: Träume“.
    Ane Dahl Torp und Ella Øverbye in einer Szene des Films „Oslo Stories: Träume“. Foto: Lukasz Bak, Alamode

    Das erste erotische Begehren erwacht durch eine Geste in einem Roman. Johanne (Ella Øverbye) hat das Buch in der Hütte ihrer Großmutter gefunden und innerhalb eines Winterurlaubs verschlungen. In dem alten Liebesroman wickelt der Geliebte der weiblichen Hauptfigur sanft einen Wollschal dreimal um den Hals, bevor sie nach draußen geht. Die zärtliche, fürsorgliche Geste löst in der 17-jährigen Leserin eine Welle von Wohlgefühl aus. Fortan lebt der Keim einer Sehnsucht in ihr, der nur darauf wartet, seine ganze Kraft zu entfalten.

    Nun betritt die Französischlehrerin Johanna (Selome Emnetu) den Klassenraum. Im morgendlichen Gegenlicht erstrahlt die charismatische, junge Frau, die schon in Paris und New York gelebt hat, in voller Schönheit. Hals über Kopf verliebt sich Johanne in sie. Allein der Blick auf den hochgekrempelten Wollpullover, der sich um die zarte Haut am Unterarm der Lehrerin schmiegt, versetzt das Mädchen in den Zustand vollkommener Erregung. Obsessiv sucht sie Johannas Nähe - und entschließt sich, der Angebeteten ihre Liebe zu gestehen. Aber als sie vor Johannas Wohnungstür steht, bringt sie unter Tränen kein Wort heraus.

    „Oslo Stories: Träume“ untersucht den betörenden Rausch der ersten Liebe

    In „Oslo Stories: Träume”, der in diesem Jahr bei der Berlinale verdient den Goldenen Bären gewonnen hat, untersucht der norwegische Filmemacher und Schriftsteller Dag Johan Haugerud den betörenden Rausch einer ersten Liebe. Es ist der zweite Teil seiner Oslo-Trilogie. „Liebe“ läuft bereits im Kino, „Sehnsucht“ folgt am 22. Mai. Mit maximalem Einfühlungsvermögen wirft sich der Film in die subjektive Erlebniswelt der 17-jährigen Hauptfigur, deren Stimme aus dem Off die Ereignisse mit einer erstaunlichen Wortgewandtheit und Reflexionsfähigkeit beschreibt. Die schwärmerische Verklärung, die emotionale Radikalität sowie das schmerzhafte Leid einer ersten, großen, unerfüllten Liebe werden hier mit enthusiastischem Detailreichtum unter die Lupe genommen.

    Aber dann tritt der Film zusammen mit seiner Protagonistin einen Schritt zurück. Ein Jahr ist vergangen. Johanne hat ihre ersten amourösen Erlebnisse in einem 93-seitigen Manuskript festgehalten. Den USB-Stick mit der Textdatei trägt sie immer mit sich herum, bis sie ihr Geheimnis mit jemandem teilen möchte. Großmutter Karin (Anne Marit Jacobsen) – eine Schriftstellerin und bekennende Feministin - erkennt vor allem die literarischen Qualitäten des Textes, während ihre Mutter Kristin (Ane Dahl Torp) bei der ersten Lektüre angesichts der intimen Details sexuellen Missbrauch wittert.

    Haugerud zeigt die großen Gefühle und die allmähliche Ernüchterung

    Aber Karin kann sie davon überzeugen, dass dies nicht die Offenbarungen eines Opfers sind, sondern die literarische Erkundung einer ersten Liebe. Sie will das Buch ihrer Verlegerin zeigen und ist überzeugt davon, dass es eine Chance auf Veröffentlichung hat. Jetzt, wo die Erinnerungen nicht mehr ihr allein gehören, verändern sich Johannes Gefühle zunehmend. In den Diskussionen von Mutter, Großmutter und Verlegerin werden die subjektiven Erlebnisse kategorisiert. Die unterschiedlichen Frauengenerationen blicken nicht ohne Neid auf die Wucht der Gefühle. Was vorher ein klares, singuläres Erleben war, kommt nun in die entzaubernden Mühlen der Komplexität.

    Beides - das große Gefühl und die allmähliche Ernüchterung - zeigt Haugerud mit der gleichen, niemals wertenden Intensität. Dabei bleiben die Figuren, auch wenn sie verschiedener Meinung sind, stets im Dialog miteinander und finden zu jener tiefen Unvoreingenommenheit, die als warmer, (wunderbar unzeitgemäßer) humanistischer Geist alle Filme von Haugerud durchweht. „Träume“ ist angetrieben von einer außerordentlichen emotionalen Intelligenz, die Gefühl und Intellekt nie als Widerspruch, sondern als sich ergänzendes, persönliches Ganzes begreift. Das zeigt sich auch darin, wie Haugerud gerade in der ersten Filmhälfte literarischen Off-Kommentar und sinnliche Visualität ineinander schmelzen lässt. Filme von solch mitreißendem Einfühlungsvermögen und freudvoller Komplexität sind eine echte Rarität - und ein wohltuendes Gegengift in einem Zeitalter, dessen gesellschaftliche Diskurse vornehmlich durch Polarisierungen geprägt sind.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden