
Der Kanzler als Freibeuter: Soll das ein Witz sein?


Nachdem nun wohl sämtliche Witze über den Piraten-Look von Bundeskanzler Olaf Scholz gemacht worden sind: Wie sind die Seeräuber wirklich? Ein Blick in maritime Abgründe.
So einen PR-Coup hätte man eigentlich eher dem einstigen britischen Premierminister Boris Johnson zugetraut: Beim Joggen hinzufallen und mit einem kleinen, geschickt ausgewählten Gesundheits-Utensil die Aufmerksamkeit der Nation schlagartig auf sich zu ziehen. Seit Olaf Scholz mit Augenklappe aufritt, redet fast nur noch Hubert Aiwanger über das Heizungsgesetz, der Rest der Welt erfreut sich am Piraten-Look eines gemeinhin als hanseatisch-dröge wahrgenommenen Bundeskanzlers. Beim G20-Gipfel in Neu-Delhi drängten sich am Wochenende die internationalen Fotografen vor allem um den Mann im Korsaren-Look.
Plötzlich wirken die Witze über Scholz irgendwie sympathischer – und es gab eine Menge in den vergangenen Tagen. Unversehens rutschte Olaf Scholz in die Johnny-Depp-Liga, der als schräg-sympathischer Kapitän Jack Sparrow in "Fluch der Karibik" das sieche Genre des Seeräuberfilms wiederbelebt hatte – und die Welt war seither schockverliebt. Die Komiker-Bataillone in den Sozialen Medien stürzten sich auf das Bild vom einäugigen Kanzler wie ein Kaperkommando auf ein wehrloses Handelsschiff. Gerne wurde ihm auf die Schulter ein Papagei gesetzt, der als Klischee-Utensil zum Korsaren gehört wie das Holzbein oder die Hakenhand.
Die Süddeutsche Zeitung zeigte sich schon fast enttäuscht, als Scholz vergangene Woche ohne bunt gefiederten Freund das Rednerpult im Bundestag enterte. So ziemlich niemand unter den Humorarbeitenden mochte auf Witze über Freibeuter-Scholz verzichten, nur Christian Ehring von Extra 3, sonst um keinen Kalauer verlegen, erklärte unter sichtbaren Schmerzen in seiner jüngsten Sendung den öffentlichen Verzicht auf jeden einschlägigen Gag.
Olaf Scholz und die Augenklappe: Sind Piraten wirklich lustig?
Nun, da offenbar sämtliche lustigen Bemerkungen über den "Fluch-der-Karibik-Kanzler" gemacht sind, lohnt sich ein etwas schärferer Blick auf die Totenkopf-Branche, jenseits aller Romantisierungen, die das Seeräubertum immer wieder erfahren hat. Und somit beginnt - Achtung, Triggerwarnung! - der Spaßbremsenteil dieses Textes. Der allgemeinen popkulturellen Begeisterung für das Piratentum hat der Autor und Übersetzer Siegfried Kohlhammer vergangenes Jahr eine geharnischte Streitschrift entgegengesetzt. In seinem Buch "Piraten. Vom Seeräuber zum Sozialrevolutionär" ficht er mit Furor und schwerem Säbel gegen alles an, was er als Verharmlosung des freibeuterischen Treibens ausgemacht hat.
Für ihn ist klar, wo diese "Brut", wie er sie nennt, zu verorten ist: beim organisierten Verbrechen, das als "Geißel der Menschheit" seit der Antike eine blutige Spur durch die Weltgeschichte gezogen hat. Er hat sich tief in die einschlägige Forschungsliteratur hineingewühlt und vernichtende Urteile ausgegraben. Etwa das des Historikers Robert Bohn, der sich daran stört, dass uns Piraten in der Literatur, im Film, in Kinderspielen und -büchern in der Regel als positiv besetzte Figur begegneten, obwohl doch die "Geschichte der Piraterie eine endlose Kette von Greuel- und Mordtaten (ist), von Raub und Plünderung, Elend und Verzweiflung, aber auch von blutiger Verfolgung und gnadenloser Ahndung".
Piraten sind mehr als maritime Mörderbanden – oder doch nicht?
Bereits im frühen 18. Jahrhundert brandmarkten Autoren die Piraten allerdings nicht nur als maritime Mörderbanden, ihnen wurden auch soziale Errungenschaften zugestanden wie etwa die Freiheit auf den Kaperschiffen, die sich angeblich deutlich unterschied von den brutalen Lebensbedingungen auf den Handels- und Kriegsschiffe der damaligen Zeit. Anfang der 1980er Jahre kommt der amerikanische Historiker Marcus Rediker zu dem Schluss, neuere Quellen wiesen darauf hin, dass Seeräuber bewusst eine egalitäre, demokratisch verfasste Gegengesellschaft zu den Verhältnissen bildeten, die sie verlassen hatten. Ihr Zusammenleben habe auf Brüderlichkeit und gegenseitiger Hilfeleistung gefußt. Für Kohlhammer ist das allerdings nur Unsinn, inspiriert vom linken Geist der 68er-Bewegung.
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In seinen Augen waren Piraten eine Art Lumpenproletariat, dessen Leben aus Suff, Gewalt, Grausamkeit und Laster bestand. Ihre Stützpunkte, wie etwa Nassau auf den Bahamas? Eine stinkende Slumsiedlung, eine "grotesk-komische Ansammlung von Läden, Hütten, Hurenhäusern und Kneipen, zusammengeschustert aus Treibholz und Segeltuch mit Dächern aus Palmblättern." So zumindest zitiert Kohlhammer den Autor Frank Sherry. Angesichts solcher Vorbilder erregt sich Kohlhammer darüber, dass vor allem von linken Gruppen gerne rebellische Seeräuber-Insignien wie der Totenkopf mit den gekreuzten Knochen verwendet werden.
Piraten haben einen massiven ökonomischen Schaden angerichtet
Ob die historischen Korsaren wirklich so waren oder nicht, mögen die Historiker unter sich ausmachen, doch in zwei Punkten muss man Kohlhammer sicherlich recht geben. Oftmals waren sie nicht einfach nur frei segelnde Räuber, sondern auch maritime Söldner, die im Dienste einer Macht einer anderen das Leben schwer machten. Dafür bekamen sie Kaperbriefe ausgestellt, die eine Art Freibrief zum Rauben und Morden darstellten. Hauptsache der Gegner musste heftig bluten. Punkt zwei sind die ökonomischen Schäden, welche Piraten etwa im globalen Handel anrichteten. Ihre Beute machten sie häufig nicht an See, sondern an Land, wo sie Siedlungen in Küstennähe überfielen, ausplünderten und die Bewohner in die Sklaverei verschleppten. Die nordafrikanischen Barbareskenpiraten rekrutierten so die Ruderer für ihre Galeeren. Waren die von den Strapazen körperlich am Ende, wurden sie über Bord geworfen. Ganze Landstriche verödeten.
Die Zahl der Piratenangriffe geht zurück
Auch heute noch treiben Seeräuber ihr Unwesen, allerdings weniger mit eigenen Pötten auf hoher See: Sie gehen relativ nahe am Ufer mit schnellen Booten auf Raubzug. Berüchtigt waren lange Zeit die Gewässer um das Horn von Afrika. Doch seit dort die europäische Atalanta-Mission mit militärischer Präsenz für Ruhe sorgt, hat die Küste vor Somalia ihren Schrecken verloren. Das International Maritime Bureau (IMB) mit Sitz in London registriert jeden gemeldeten Piratenangriff auf diesem Planeten. Die Bilanz für das Jahr 2022: insgesamt 122 Seeräuberattacken, 2021 waren es noch 132. Es vergeht kein Monat ohne einen versuchten oder vollendeten Überfall. Im September waren schon zwei, im August fünf. Dennoch liege die Zahl der Überfälle auf See so niedrig wie seit 30 Jahren nicht mehr, so das IMB.
Stirb die Seeräuberei aus? Sicherlich nicht. Schon gar nicht in der Populärkultur. Dieser Tage hat der Streamingdienst Netflix eine neue Serie auf See geschickt: die Realverfilmung des Piraten-Mangas „One Piece“. Es ist die meistverkaufte Manga-Serie der Geschichte. Für Nachschub im Totenkopf- und Augenklappen-Genre ist also gesorgt
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