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Riad Sattouf spricht über sein Esther-Projekt: „Ich wollte einen Comic mit dem Geschmack der Kindheit“

Interview

„Es macht mir Spaß, eine Art Comic-Apostel zu sein“

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    Auszug aus Riad Sattoufs "Esthers Tagebücher. Mein Leben als Achtzehnjährige"
    Auszug aus Riad Sattoufs "Esthers Tagebücher. Mein Leben als Achtzehnjährige" Foto: Riad Sattouf; Reprodukt Verlag

    Sie haben die Pariserin Esther von ihrem neunten bis zu ihrem 18. Lebensjahr begleitet und ihre Entwicklung in Form von Tagebüchern nachgezeichnet. Wer ist Esther?
    RIAD SATTOUF: Sie ist die Tochter eines mit mir befreundeten Paars. Bei einem Abendessen mit ihren Eltern begann sie, von ihrem Alltag zu erzählen, von den Gesetzen, die das Leben auf dem Schulhof bestimmen. Da beschloss ich, sie zum Thema einer Serie zu machen. Mir gefiel an Esther ihre Wortgewandtheit und wie frei sie sich über ihre Gedanken ausdrücken konnte. Sie scherte sich auch gar nicht besonders um mein Interesse an ihr – sie war wie ein Pinguin, der völlig gleichgültig an einer Kamera vorbeiläuft. Natürlich veränderte ich den Namen und das Aussehen, damit man sie nicht wiedererkennt, denn ich wollte ihre Anonymität bewahren.

    Warum haben Sie ausgerechnet ein so scheinbar gewöhnliches Mädchen für Ihr Projekt ausgesucht?
    SATTOUF: Ich mochte die Idee, eine Person zu begleiten, die als ganz normal erscheint und dadurch fast unsichtbar ist. Ich wollte sie sichtbar machen. Es ging nicht darum, dass sie mir außergewöhnliche Dinge erzählen sollte, sondern ich sah sie eher als eine Art Geheimagentin in der Welt der Kinder und Jugendlichen.

    Wie haben Sie mit ihr gearbeitet und wie gelang es, Esthers Vertrauen zu gewinnen und ihre Perspektive einzunehmen?
    SATTOUF: Wir telefonierten oder schickten uns Nachrichten und Mails. Oft bediente ich mich einfach an einem Stück einer ihrer Geschichten, von der sie gar nicht dachte, dass sie interessant für mich sein könnte. Was sie mir erzählte, war wie eine Kochzutat, zum Beispiel eine Wilderdbeere, die ich in eine Sauce oder eine Creme verwandelte, die noch den Erdbeergeschmack hatte. Da sie merkte, dass ihre Figur im Comic anders war als sie selbst im echten Leben, behielt unser Austausch seine Leichtigkeit. Für mich ging es nicht darum, ihre Geschichte ganz strikt und präzise so aufzuschreiben, wie sie es mir erzählt hatte. Sondern sie diente als Inspiration.

    Sie haben Esther über Jahre hinweg begleitet. Was ist typisch für ihre Generation?
    SATTOUF: Die jungen Leute heute unterscheiden sich in einer Sache von uns in unserer Jugend und den vorherigen Generationen: Die Welt hat sich für sie verkleinert, einen Teil seiner Magie verloren. Durch die sozialen Netzwerke, den ständigen Zugang zu Internet und zu Informationen weiß man genau, wie die Menschen überall auf der Erde leben, ob in Nouakchott oder in Oslo. Es gibt keinen Aspekt der Realität mehr, der seine Geheimnisse bewahrt hat. Das kann entmutigend sein. Als Jugendlicher wollte ich unbedingt Comic-Autor werden und malte mir in meiner Fantasie ein ganzes mystisches Universum darüber aus, wie der Alltag als Autor sein würde, ohne Informationen darüber zu haben. Heute reicht es, das Handy zu nehmen, um alles über Comicautoren, ihr Leben und ihre Schwierigkeiten zu erfahren.

    Gibt es auch Situationen, in denen Sie nicht einverstanden mit Esther waren? Einmal sagt sie nach dem islamistischen Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, dass es vielleicht besser sei, keine Götter mehr zu zeichnen.
    SATTOUF: Es war mir wichtig, nicht einzugreifen oder gar zu urteilen. Ich nahm immer ihre Perspektive ein, auch wenn sie manchmal nicht nett zu anderen Kindern war. Ich selbst hasse ideologische Bücher oder Filme, in denen man versucht, Menschen zu erziehen oder ihnen erklärt, was sie denken sollen. Ich wollte einen Comic mit dem Geschmack der Kindheit und des Realen machen, aus Kindersicht.

    Mehrere Jahre fertigten Sie die Serie „Das geheime Leben der Jungen“ in der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auch „Esthers Tagebücher“ veröffentlichten sie zunächst im Magazin Nouvel Observateur. Wie wichtig ist für Sie als Comic-Autor die Printpresse?
    SATTOUF: Es gibt Berührungspunkte, aber ich war nie Teil der Redaktion von Charlie Hebdo und wäre nicht in der Lage, politische Karikaturen zu zeichnen. Die Zusammenarbeit habe ich um das Jahr 2012 beendet, als ich mit „Esthers Tagebüchern“ begann. Meine persönliche Leidenschaft ist das Comic, aber die Presse kann helfen, um eine andere Leserschaft zu erreichen. Das war der Fall dank der großen Verbreitung des Nouvel Observateur. Für mich ergab sich so die Chance, Menschen anzusprechen, die sonst nie Comics lesen. Es macht mir Spaß, eine Art Comic-Apostel zu sein.

    Ihre Bücher erscheinen auch in Ländern wie Deutschland, in denen die Kultur von Comics viel weniger ausgeprägt ist als in Frankreich oder Belgien. Warum können die Geschichten der jungen Pariserin auch anderswo Menschen ansprechen?
    SATTOUF: Für Pariser ist ihr Leben normal, aber anderswo ist Esthers Realität so exotisch wie für uns eine Person, die im Amazonas oder in Alaska lebt. Ich bin zwar jedes Mal überrascht über den Erfolg von „Esthers Tagebüchern“ in Ländern wie China oder Südkorea, umgekehrt lese ich aber wahnsinnig gerne darüber, was eine Person in China oder in Südkorea erlebt.

    Woher kam Ihre Leidenschaft für das Zeichen und für Comics?
    SATTOUF: Das ist ein Rätsel, denn in meiner Familie hat sie niemand geteilt. Aber seit meiner Kindheit war ich fasziniert von dem Vorgang, auf einem leeren Blatt Papier zeichnend etwas auftauchen zu lassen – eine Figur, eine Geschichte. Ich wollte nichts anderes machen und hätte auch gar nichts anderes gekonnt.

    Sie dachten als junger Mann, dass Sie nicht unbedingt vom Comiczeichnen leben können würden.
    SATTOUF: Ja, viele haben mir davon abgeraten. Ich wusste schon früh, dass ich nicht viel zum Leben brauche. Der Erfolg stellte sich bei mir nicht sofort ein, sondern er kam erst nach rund 15 Jahren, als ich etwas an meiner Herangehensweise anpasste. Ich änderte in meinem Kopf das Verhältnis zu den Lesern. Bei Büchern wie „Der Araber von morgen“ und „Esthers Tagebücher“ dachte ich als Zielgruppe an Menschen, die keine Comics lesen, wie meine bretonische Großmutter, die inzwischen gestorben ist. Als sie noch lebte, liebte sie meine Zeichnungen, obwohl sie Comics allgemein nicht mochte. Also überlegte ich mir, was für ein Comic ich machen könnte, den sie trotzdem gelesen hätte. Das hatte erstaunliche Auswirkungen auf mein Publikum.

    Riad Sattouf hat sich schon als Kind nichts anderes vorstellen können, als Comic-Zeichner zu werden.
    Riad Sattouf hat sich schon als Kind nichts anderes vorstellen können, als Comic-Zeichner zu werden. Foto: Pascal Helleu

    Zur Person

    Riad Sattouf (47) ist ein franko-syrischer Comicautor und Filmregisseur, der vor allem durch seine autobiografische Reihe „Der Araber von morgen“ bekannt wurde, in der er von seiner Kindheit in Libyen und Syrien erzählte. „Esthers Tagebücher“ ist eine Langzeitstudie über ein typisches Pariser Mädchen, das zur jungen Frau wird. Fast zehn Jahre lang begleitete er sie auf ihrem Weg, gab dabei ihre Gedanken und Erlebnisse aus kindlicher Sicht wieder. Nun erschien der neunte und letzte Band auf Deutsch im Reprodukt-Verlag.

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