
Die liebe Familie ist gefragt

Calla und Carolas mal emotional
Ach, die liebe Familie! Ein hochemotionales, oft genug auch hochexplosives Thema, gerade jetzt, wo es auf Weihnachten zugeht. Vieles haben die Zuschauer auf die kleinen Zettelchen geschrieben, die vor dem Stück „Dreiviertelschwester“ verteilt wurden. Vorgegeben war nur das Wort Familie.
Die beiden Schauspielerinnen Monica Calla aus Landsberg und Nina Carolas (München) sind mit ihrem 2016 erstmals aufgeführten Stück „Dreiviertelschwester“ endlich auch nach Landsberg gekommen. Eine komplette Eigenproduktion, geschrieben und inszeniert von den beiden großartigen Schauspielerinnen selbst. Ein dichtes und gleichzeitig lockeres Stück, humorvoll und gleichzeitig tragisch, zusammengefasst: ein wunderbarer Abend.
„Wer hätte nicht gerne eine Schwester? Eine, die man liebt und die man in Stücke reißen kann?“ Zwei erwachsene Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, finden heraus, dass sie Halbschwestern sind. „Was fällt weg, wenn sie nur die Hälfte der ganzen Schwester ist?“ Monica Calla als Annemarie Gruber, eine esoterische, naturverbundene Ökotussi in kaftanähnlicher Bluse über rosafarbenen Jeans, dazu eine selbst genähte Umhängetasche. Therapieerfahren, wenig Geld, leicht naiv, voll guten Willens. Als Pflegekind hat Annemarie ihre eigene Mutter nie kennengelernt. Jetzt findet sie heraus, dass es eine zweite, jüngere Tochter derselben Mutter gibt: Anna-Lena von Stein, eine erfolgreiche Businessfrau, deren Familie ihre Firma ist. Auch sie ein ungeliebtes Kind, allerdings ohne Interesse an echter Familie. Nina Carolas spielt grandios, in aller kühlen Zurückhaltung, die die Rolle gebietet, ist ihr Mienenspiel wunderbar akzentuiert und überzeugend. Die anfängliche Abneigung der beiden Frauen, ihre Unsicherheit im Umgang miteinander, ihre vorsichtigen Annäherungsversuche, all das ist förmlich greifbar. Und das liegt nicht nur daran, dass die Bühne regelrecht in den Zuschauerraum übergeht. Gespielt wird im Altstadtsaal der VR-Bank, an den Wänden noch die Bilder der Vernissage vom Vorabend (Harry Sternberg). Man sitzt mitten im Geschehen.
Was ist das nun: Familie? So eine Art Gefühl, eine Art Verbundenheit, oder? Aber welche Verbindung gibt es, wenn man 32 beziehungsweise 42 Jahre lang keine Familie hatte und plötzlich, seit sechs Monaten eine Schwester? In dramaturgisch intelligent gestalteten Rückblicken erfahren wir den anstrengenden Weg der beiden ungleichen Schwestern zueinander. Wunderbare Schauspielkunst: Aus den (nie platten) Klischees, den (für den Zuschauer) lustigen Spitzen entwickeln sich bei aller sich durchziehenden Unsicherheit und gegenseitigen Abneigung vorsichtige Annäherungsversuche und die (leider zu späte) Erkenntnis, dass Leben Familie haben muss. (felt)
Die Diskussion ist geschlossen.