„Eigentlich hat die Geschichte mehrere Anfänge.“ So beginnt der Prolog des 1279 Seiten umfassenden Familienepos „Das achte Leben (für Brilka)“, von der in Tiblissi (Tiflis) geborenen Nino Haratischwili. Die Bühnenfassung des Metropoltheaters München von Jochen Schölch, startet mit eben diesem Satz in einer Szene, die das Verschwinden der zwölfjährigen Brilka (Anuschka Tochtermann) thematisiert, die 2006 nach einem Auftritt ihrer Tanzgruppe in Amsterdam nicht mehr in ihre georgische Heimat zurückkehren will. Oder wie es die Buchautorin in ihrer eigenen, wunderbaren Sprache formuliert, „der Welt, in der sie lebt, ein Nein ins Gesicht zu schleudern und einen anderen Anfang für sich und ihre Geschichte zu suchen.“
Brilkas Tante Niza (Eli Wasserscheid), die ihre Nichte aufspürt, schreibt an der Familiensaga, deren Rückblenden zu Brilkas Wurzeln das Publikum im ausverkauften Landsberger Stadttheater nach Georgien entführt. Dort erblickt 1900 Stasia Jaschi, (alterslos, tanzend, brillant dargestellt von Gerd Lohmeyer, mit geblümtem Kopftuch) als Tochter eines Schokoladenfabrikanten im russischen Zarenreich das Licht der Welt. Das neunköpfige starke Ensemble, verknüpft mit rasanten Rollen- und Szenenwechseln, die sechs Generationen umfassende Familiengeschichte mit den brutalen, sich ständig verändernden, politischen Systemen, auf einem von Stasia ausgerollten Geschichtsteppich. Dieser ist umrahmt von Kleiderpuppen, über die Gestorbene beim Verlassen der Bühne ihre Klamotten hängen, was aufgrund der schrecklichen Ereignisse, öfter vorkommt.
Unter die Jacke gestopfte Kleidung signalisiert eine Schwangerschaft
Eine Jacke, die ein Mann einer Frau unter die Kleidung stopft, signalisiert eine Schwangerschaft, und das kommt auch öfter vor. Nach dem Herausfallen streifen sich Erwachsene, die ein Kind mimen, das Kleidungsstück über, und spielen im Kindesalter auf Knien. Von Stalin über Chruschtschow und Breschnew bis zum jungen Putin, von den Weltkriegen, dem Prager Frühling, dem Mauerfall bis Tschernobyl, sind auf einer in Richtung Westen abgeschotteten Ziegelmauer, Bilder des jeweiligen Zeitgeschehens projiziert. Machthungrige Männer und ihre Entscheidungen machen Frauen zu Opfern. Zuweilen begehren sie auf, in dem sie Intrigen aus Liebe, Hass, Trauer und Schmerz spinnen.
Stasia, die in ihrem 99 Jahre währenden Leben bittere Schicksalsschläge mit stiller Größe erträgt, gelingt es bis zuletzt, ihre Träume zu tanzen, die sie so gerne auf einer Bühne in Paris verwirklicht hätte. Dafür reitet sie, ohne Requisiten, in einem der wenigen Glücksmomente, mit ihrem Mann Simon, einem russischen Oberst, der im fernen Moskau lebt, um die Wette (Patrick Nellessen, er bewältigt schier mühelos sieben männliche Rollen). Ihr Sohn Kostja (Michele Cuciuffo) macht als Apparatschik Karriere, jedoch nicht sein Glück. Tochter Kitty (Maja Amme) wird vom sowjetischen Geheimdienst schwer misshandelt, weil ihr Freund Andro als Verräter gilt, gelangt aber dann mit Kostjas Hilfe in den Westen, wo sie sich eine Karriere als Sängerin aufbaut.
Stasias bildschöne Schwester Christine (Dascha von Waberer) lässt sich auf einen mächtigen Geheimdienstmann ein, ihr Mann Rames zerstört vor seinem Tod ihr Gesicht. Elene (Sophie Rogall), Kostjas gegen das System rebellierende Tochter, lässt ihre beiden Kinder Daria (Victoria Mayer) und Niza, die unterschiedlich wie ihre Väter sind, so frei wie möglich aufwachsen. „Frauen und Männer sind nicht gleich“, sagt Stasia und optimiert „Frauen sind besser“. Am Ende darf sie die legendäre warme Schokoladen-Rezeptur anrühren, die nur Jaschi-Frauen kennen und deren Süße gegen die Bitternis des Lebens hilft. Für ein intensives Theatererlebnis in fantastischer Teamleistung, auch für poetische Augenblicke von großer Zartheit, gab es langanhaltende stehende Ovationen.
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