
Raus aus dem Kasten

Hermann Walter ging einst freiwillig in die DDR und ist vor gut 30 Jahren wieder aus dem Land geflüchtet
Unterallgäu Das entscheidende Dokument hat er mehr oder weniger entwendet. Rein in den Lesesaal, Gesetzblatt heimlich kopiert, Kopie unter dem Hemd verborgen und sofort wieder raus. Anders ging das nicht in der ehemaligen DDR. Was Hermann Walter (Name geändert) mit einem Kollegen aus der Landesbibliothek in Dresden geschmuggelt hatte, hätte so etwas wie das plötzliche Ende der DDR bedeuten können. Das SED-Regime hatte dem Westen bei der ersten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Zugeständnisse gemacht, um als Staat anerkannt zu werden. 1975 war das, knapp 15 Jahre nach dem Mauerbau.
Der Verordnung zufolge stand es fortan jedem DDR-Bürger offen, seinen Wohnsitz frei zu wählen. Nur veröffentlicht wurde diese Gesetzesänderung nie. Die staatlich gelenkten Medien berichteten nicht darüber. „Und zu anderweitigen Informationen hatten wir keinen Zugang“, sagt Walter. Die Kopie des Gesetzblatts in Händen, konnten er und seine Familie die Ausreise beantragen, ganz legal und auf bürokratischem Weg.
Heute sitzt Walter in seinem Haus in Kammlach und erzählt aus seinem Leben. In einem Fernsehinterview hatte seine Frau Stefanie nach der gelungenen Flucht lobende Worte für Franz Josef Strauß gefunden. In deren sozialdemokratischem Arbeitsumfeld kam das nicht gut an. Seitdem wollen die Walters nicht mehr öffentlich auftreten. Ihre Namen sind geändert, der Rest ist authentisch.
Die Geschichte beginnt nordöstlich von Stuttgart. Walters Mutter arbeitet in einem Städtchen als Telefonistin im Rathaus. Der Vater ist zwar Mitglied der KPD, aber eigentlich führt die Familie ein biederes Leben. Richtig solide sei es dort zugegangen, mit Sonntagskaffee und allem, was Ende der 50er Jahre sonst zu einem bundesdeutschen Familienidyll gehört, beschreibt es Stefanie Walter. Als Jugendlicher habe es ihr Mann nicht mehr ausgehalten. Hermann Walter habe einfach mal von Zuhause weg gewollt. Eine Art der Rebellion sei das gewesen. Andere gehen in solchen Fällen nach Afrika oder Südamerika. Walter ging in die Deutsche Demokratische Republik.
In der DDR sah man es gern, wenn ein Klassenfeind aus dem dekadenten Westen in den Osten übersiedelte. Das bewertete man als Beweis für die Anziehungskraft des Systems. Walter mit seinen 17 Jahren galt als sehr entwicklungs- und aufnahmefähig. Jedenfalls hatte er keine Probleme, einen Ausbildungsplatz zu finden. Das Leben in der DDR ließ sich gut an. Walter fuhr eine NSU Lux. Niemand sonst im Osten hatte ein solches Motorrad. „Damit war ich eine richtige Sensation“, sagt er. Auch ein Mädchen lernte er bald kennen. Doch als er es in die BRD mitnehmen und seinen Eltern vorstellen wollte, wurde ihnen die Ausreise verweigert. „Dann könnt ihr meinen Ausweis auch gleich behalten“, will Walter zu den zuständigen Beamten gesagt haben.
1961 begann der Mauerbau. Walter machte derweil Karriere. Es dauerte ein bisschen. Er war gelegentlich aufmüpfig und schnitt oft nur mittelmäßig im Fach Marxismus-Leninismus ab. Seine Vorgesetzten befürworteten es deshalb, dass er noch ein bisschen Zeit bei der Arbeiterklasse zubrachte. Schließlich aber durfte er studieren, wurde Ingenieur und schaffte es bis in die Position eines Leitorganisators, eine Schlüsselstelle der Planwirtschaft, eigentlich Parteimitgliedern vorbehalten.
Als Leitorganisator erlebte Walter die Absurdität der DDR. Er und ein paar Ingenieurskollegen gingen Dachrinnen reinigen. Sie taten dies schlichtweg, weil sie es konnten. Sie verdienten sich ein bisschen Geld dazu. In ihren eigentlichen Jobs hatten sie nichts zu tun. „Und wenn es mal ein Projekt gab, hat man da irgendwas reingeschrieben. Hat ja eh keinen interessiert“, sagt Walter.
Die Wirtschaft in der DDR stagnierte. „Es kam die Zeit, da überhaupt keine Entwicklung mehr zu sehen war“, sagt Walter. Er und seine Frau suchten Ausgleich in der Kultur. Das Gewandhaus in Leipzig, die Oper, drei Mal die Woche Theater. „Kultur war billig und an den richtigen Orten vom Feinsten“, sagt Walter. „Das hat uns viel Lebenszweck gegeben.“ Erfüllend war aber auch das nicht. „Es gab so viele Ecken, wo man an eine Grenze gestoßen ist. Beruflich ging es nicht weiter. Und man war eingesperrt in diesem Kasten“, sagt Stefanie Walter „Der Kasten“, sagt sie, „der war das Hauptproblem“.
Am 8. April 1980 verließen die Walters die DDR. Sie hatten nie großartig paktiert, sich eigentlich nie auf andere Leute eingelassen. Hermann Walter hat in seiner Stasi-Akte nachgelesen. 700 bis 800 Seiten und nur Verrat von Leuten, von denen man es ohnehin wusste. Die wenigen Vertrauten, mit denen die Walters Informationen austauschten, etwa über die KSZE-Schlussakte, hatten dichtgehalten. Nachdem sie den Antrag auf Ausreise eingereicht hatten, erlebten die Walters den „ganz normalen“ Staatsterror der DDR.
Die Walters mussten ihre Pässe abgeben. „Wir waren nichts mehr“, sagt Stefanie Walter. „Wir standen mit einem Bein im Gefängnis“, sagt ihr Mann. Die Stasi kam regelmäßig zu Besuch, ab und zu hat sie auch mal jemanden mitgenommen. Hermann Walter wurde mit dem Verlust des Jobs gedroht. Nach der Ausreise wurde der Sohn aus erster Ehe verhaftet, kam aber auf Intervention von Franz Josef Strauß wieder frei.
Die Ausreise wurde von heute auf morgen bewilligt. Zehn Stunden Zeitfenster. „Sei froh um jede Minute, die wir hier eher rauskommen“, sagte Hermann Walter zu seiner Frau. Die Familie packte die Koffer, die sie über Monate angesammelt hatte, über 30 Stück. Klamotten, Kunstgegenstände, alles, was ihnen etwas wert zu sein schien. Den Trabant hatte Hermann Walter zuvor einem Freund überschrieben. Bei einer Bank durfte die Familie 5000 Ostmark in D-Mark umtauschen, fast im Verhältnis eins zu eins.
Mit dem Zug ging es zunächst nach Waiblingen. Später siedelte die Familie nach Kammlach über. Dort wohnen Hermann und Stefanie Walter in einem renovierten Bauernhaus. Im Eingangsbereich steht eine Sammlung mit alten Bügeleisen. Auch die waren in den Koffern, Hermann Walter sammelt sie.
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