
Leben mit drei X-Chromosomen: Geschichten, die Mut machen

In Neu-Ulm treffen sich junge Frauen, Jugendliche und Kinder, bei denen das Geschlechtschromosom X dreifach vorhanden ist, und berichten von ihren Erfahrungen.
Hannah und Hanja nehmen einander in den Arm. Die beiden Freundinnen freuen sich über das Wiedersehen. Sie haben regelmäßig WhatsApp-Kontakt, leben aber in Aachen und Bremen und damit weit auseinander, zumal Hanja derzeit in der Schweiz studiert. Zwei ganz normale 20-Jährige, könnte man meinen. Wenn da nicht die Diagnose Triple-X-Syndrom wäre: Hannah und Hanja sind zwei von geschätzt 40.000 betroffenen Frauen in Deutschland, in deren Chromosomensatz das Geschlechtschromosom X dreifach vorhanden ist. Im Neu-Ulmer Diagnostik- und Beratungszentrum Genetikum trafen sich am Samstag betroffene junge Frauen, Jugendliche und Kinder sowie deren Eltern aus dem gesamten Bundesgebiet.
2005 wurde diese Triplo-X-Kontaktgruppe mit damals nur zwölf betroffenen Familien gegründet, heute stehen 150 Familien über die Gruppe im Kontakt. Manche Teilnehmerinnen sind von Anfang an dabei – und sie möchten wie Hannah, die Biologie studiert, Mut machen, wenn eine Schwangere nach einer Fruchtwasseruntersuchung erfährt, dass ihr ungeborenes Mädchen ein X-Chromosom zu viel hat. „Man kann damit vieles schaffen, wenn man es will und es durchzieht“, erklärt Hannah. Sie selbst weiß von ihrer Trisomie, seit sie denken kann. „Meine Mom erfuhr davon, weil sie schon 37 war, als sie mich bekam, und weil sie deshalb eine Fruchtwasseruntersuchung machen ließ.“
Triple-X-Syndrom: Geschlechtschromosom X ist dreifach vorhanden
Hannah empfindet die Trisomie – über die heute noch immer so wenig bekannt ist, dass die meisten Betroffenen nicht wissen, dass sie drei X-Chromosomen haben – eher als etwas Besonderes, keinesfalls aber als etwas, was sie behindert. „Weil meine Mom es von Anfang an wusste, habe ich alle Unterstützung bekommen, die nur möglich war“, sagt sie. Wie häufig bei dieser Chromosomenanomalie zeigte Hannah Entwicklungsverzögerungen im sprachlichen Bereich. „Ich erinnere mich, dass ich alles verstand, aber ich fing erst mit dreieinhalb Jahren zu sprechen an und lernte dann plötzlich ganz viel auf einmal.“
Bei Hanja war es anders: Ihre Familie erfuhr die Diagnose erst, als sie acht Jahre alt war. Dass etwas an ihrer kleinen Tochter anders war, wussten die Eltern aber von deren Geburt an: Hanja wurde mit einem Loch im Herzen geboren, ihre Lunge ist zu klein, und sie hat Hörprobleme, weil ihre Ohren nicht voll ausgebildet sind. Hanja fing spät an zu laufen, bei ihr war die mit der Trisomie verbundene Entwicklungsverzögerung motorischer Art.
Hannah, Hanja und andere Betroffene haben inzwischen eine WhatsApp-Gruppe gegründet, die sie „Nixxxen“ nennen – mit drei „x“. Im Austausch von Nachrichten unterstützen die Mädchen und Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet einander in wichtigen medizinischen Fragen wie beispielsweise der, ob hormonelle Therapien eingesetzt werden sollten oder nicht. Aber sie tauschen sich auch ganz persönlich aus. Gerade weil Mädchen mit Triple-X-Syndrom oft in ihrem Umfeld keine weiteren Betroffenen kennen, hilft diese Möglichkeit des Austausches enorm, berichtete eine Mutter.
Betroffene aus ganz Deutschland berichten von ihren Erfahrungen
Miriam, eine Betroffene aus der Region, kann weniger offen mit der genetischen Mutation umgehen – außer ihrer Mutter und wenigen Freunden weiß die Familie nichts davon. Auch ihre Mutter erfuhr von der Diagnose per Zufallsbefund und hat sich intensiv mit der Symptomatik befasst, bedeuten doch mit der Trisomie häufig verbundene Symptome wie Stottern und Schüchternheit im normalen Schulsystem eine große Belastung für die betroffenen Mädchen. Miriam bekam intensive Sprachheilfrühförderung, konnte in eine Regelschule wechseln und macht heute eine Ausbildung.
Weil noch zu wenige Studien über die Auswirkungen des Triple-X-Syndroms vorliegen, setzt man am Neu-Ulmer Genetikum auf die Vernetzung der Betroffenen und auch auf internationale Kontakte, wie Genetikum-Leiter Karl Mehnert sagte. In den USA, in Großbritannien und den Niederlanden sei man in der Diagnostik, Beratung und Therapie viel weiter als in Deutschland, wo Ärzte am Triple-X-Syndrom häufig kein Interesse zeigten, so eine Mutter. Man könne als betroffene Schwangere auf eine Beratung stoßen, die Ängste vor dem Ungeborenen auslöse und die Abtreibungen bewirken könne. „Dabei sind das so tolle Mädels!“
Hannahs Bericht, so eine Mutter eines noch ganz jungen von Trisomie-X betroffenen Mädchens, habe ihr Mut gemacht, mit der Diagnose gelassener umzugehen.
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