Startseite
Icon Pfeil nach unten
Neuburg
Icon Pfeil nach unten

Neuburg: Musik, die man nie mehr loslassen möchte

Neuburg

Musik, die man nie mehr loslassen möchte

    • |
    • |
    • |
    Joey Calderazzo beweist sich bei seinem Auftritt im Neuburger Jazzkeller als genialer Musiker.
    Joey Calderazzo beweist sich bei seinem Auftritt im Neuburger Jazzkeller als genialer Musiker. Foto: Reinhard Köchl

    Schwierig zu fotografieren. Denn sein Gesicht ist fast immer dem Bösendorfer-Flügel zugewandt. Auch schwierig, den Fluss all der gespielten Noten in Titel zu ordnen, denn es gibt so gute wie keine Ansagen. Die Themen fliegen wild durcheinander, je nach Lust und Laune stanzt er wuchtige Blockakkorde in die Klaviatur oder pflügt alle Oktaven mit seinen spinnenartigen Fingern wie ein Sprinter um. Aber es ist erstaunlicherweise leicht, ihm und seinen Partnern zu folgen, am Ende kommen die zwei Stunden sogar in die Nähe eines erhebenden Glücksgefühls. Denn Joey Calderazzo war schon immer ein ganz Großer, bereits 1991, als er mit gerade mal 26 Jahren sein Debüt im Neuburger Birdland gab, und auch jetzt, wenn er als gereifter 60-iger in den Hofapothekenkeller zurückkehrt.

    Ein strahlender Held wollte der Mann aus New York eigentlich nie sein. Eher ein wichtiger Hauptdarsteller in einer hoffentlich ewig laufenden Daily Soap, ein unverzichtbarer Bestandteil, ohne den das große Ganze nur mehr halb so hell strahlen würde. Als der junge Joey seine Karriere begann, da prophezeiten sie ihm einen Weg wie weiland Herbie Hancock, Chick Corea oder McCoy Tyner, er galt als Weltstar kurz vor der Entpuppung. Doch Calderazzo wollte viel lieber mit großen Saxofonisten arbeiten, Teil eines noch größeren Ganzen sein, was ihm in der unsicheren Jazzszene auch ein Stückchen kreative und wirtschaftliche Stabilität garantierte. So wurde er Teil der Band von Michael Brecker, und nach dessen Tod wichtigste Säule des Quartetts von Branford Marsalis, der mit ihm zusammen gerade jetzt „Belonging“, den Meilenstein des Pianisten-Gottes Keith Jarrett, neu eingespielte – mit Joey Calderazzo in der „Titelrolle“.

    Joey Calderazzo entfaltet seine musikalische Magie im Neuburger Birdland

    Gerade deshalb wirken seine gelegentlichen Trio-Intermezzi wie Befreiungsschläge und vorsichtige Fingerzeige, was die Welt wohl bei einer konsequenteren, ichbezogeneren Karriereplanung zu erwarten gehabt hätte. In Neuburg brennt der US-Amerikaner mit dem wunderbar zwischen den Polen verbindenden und dennoch heftig groovenden Kontrabassisten Orlando LeFleming sowie Drummer David Hawkins ein Feuerwerk an unbändiger Spielfreude, gutem Geschmack, längst vergessenen Tugenden der musikalischen Interaktion ab. Immer wieder schimmern Aromen von altem Bebop durch, Prisen von Erroll Garner, Bud Powell bis Oscar Peterson, gleichwohl verscheucht jede Note konsequent den Anflug von ranzig-nostalgischem Unwohlsein.

    Wenn Calderazzo und Co. mit einem schleppenden Blues die Luft im Birdland vibrieren lassen oder mit zarten Balladenlinien scheinbar die Zeit anhalten und es ihnen gelingt, selbst im gedrosselten Tempo mit einer Energiewelle das Gewölbe zu fluten (auch ein Verdienst des Schlagzeugers Hawkins) – dann weiß man, was den meisten Pianotrios der Gegenwart fehlt. Es ist diese unbedingte Bereitschaft, voll ins Risiko zu gehen, tatsächlich zu interagieren sowie sämtliche Harmonien und Taktvorgaben von der Struktur des Notenblattes zu befreien.

    Bei den dreien funktioniert das sogar bei einer pflichtschuldig im Zustand allergrößter Ermüdung dargebrachten Zugabe wie „Stars Fell On Alabama“, die das Publikum nach zwei rauschhaften Sets lautstark einfordert. Selbst jetzt, im maximal gedrosselten Modus, entsteht noch so viel Gefühl, so viel Wärme und Geborgenheit, dass man diese Musik eigentlich nie mehr loslassen möchte. Virtuosität nennt man das. Im Fall von Joey Calderazzo ist es sogar Genialität.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden