Frau Amann-Neher, Sie sind Neurologin und leiden selbst unter Migräne. Wie fühlt sie sich im Unterschied zu normalen Kopfschmerzen an?
Bernadette Amann-Neher: Ein Migräne-Anfall ist wie ein Gewitter im Kopf. Ein bis zwei Stunden vorher fühlt man sich unwohl, es wird einem heiß und kalt. Dann beginnt die Aura, es flimmert vor den Augen, man sieht nicht richtig, kann sich schlecht konzentrieren, wird müde. Meist bin ich extrem gereizt. Dann kommen diese Wahnsinnskopfschmerzen, Übelkeit, Druck hinter einem Auge. Man möchte sich nur noch zurückziehen. Im Kopf herrscht Chaos.
Wie lange hält das an?
Amann-Neher: Die Schmerzen dauern oft zwei, drei, vier Stunden. Manchmal auch zwei Tage. Während eines Migräne-Anfalls liege ich im Dunkeln mit Ohrstöpseln im Bett und brauche absolute Ruhe. Wenn die Schmerzen abflauen, schlafe ich meistens ein. Beim Aufwachen geht es meist besser. Ich fühle mich dann sehr müde und zerschlagen.
Kann man in dieser akuten Phase noch etwas tun, um die Schärfe des Anfalls zu unterdrücken?
Amann-Neher: Wenn die ersten Schmerzen kommen, sollte man Ibuprofen, Novalgin oder ein Triptan einnehmen, das viele Migräne-Patienten zu Hause haben. Sind die Schmerzen schon sehr stark, kann man aber oft wegen großer Übelkeit die Tablette gar nicht mehr bei sich behalten.
Wie hat das bei Ihnen angefangen?
Amann-Neher: Ich hatte zum ersten Mal mit 16 Migräne vor einer Latein-Klassenarbeit. Die Schmerzen waren so stark, dass ich nicht mitschreiben konnte. Im Laufe der Jahre habe ich herausgefunden, was bei mir Migräne auslöst: Das kann asiatisches Essen sein oder andere histaminhaltige Nahrungsmittel wie Käse, aber auch Alkohol. Wenn ich viel Stress habe, zu wenig getrunken oder geschlafen habe oder morgens beim Autofahren die Sonnenstrahlen ins Auge blenden, kann das Migräne auslösen.
Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass eine Attacke mit einer Überaktivität von Nervenzellen im Hirnstamm beginnt. Was weiß man über die Auslöser?
Amann-Neher: Man weiß nicht genau, was im Gehirn abläuft. Wahrscheinlich triggern bestimmte Reize über das Auge oder den Geruch den Trigeminusnerv. Dadurch werden im Hirnstamm bestimmte Botenstoffe ausgeschüttet. Diese führen dazu, dass sich Gefäße erweitern und wir Kopfschmerzen bekommen. Das Gehirn kann keine Schmerzen empfinden, nur die Gehirnhäute. Das passiert eben auch über den Trigeminusnerv.
Wie begleiten Sie Migräne-Patienten?
Amann-Neher: Jeder meiner Patienten hat einen Kopfschmerzkalender. Dieser wird über mindestens zwei bis drei Monate geführt: Darin wird notiert, wann der Anfall auftrat, ob mit oder ohne Aura und wie stark die Schmerzen waren auf einer Skala von eins bis zehn. Zusätzlich, was unmittelbar davor war, was gegessen wurde und ob es Besonderheiten wie Stress gab und man sich über etwas aufgeregt hat. Und schließlich, was geholfen und was man getan hat, damit der Migräne-Anfall wieder vorbeigeht. Jeder Patient braucht eine sehr individuelle Beratung.
Was lässt sich daraus ablesen und ableiten für die Behandlung?
Amann-Neher: Bei vielen Patienten kann man nach ein paar Monaten sehen, dass es oft Tage mit sehr viel Stress waren mit dem Vorgesetzten, Mitarbeitern und der Familie oder Prüfungen, die als Trigger wirkten. Meist haben sie dann auch zu wenig getrunken. Tatsächlich hat es oft auch mit histaminhaltigen Nahrungsmitteln zu tun, wie Rotwein oder fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut.
Wie steht es mit Schokolade?
Amann-Neher: Früher dachte man, Schokolade würde Kopfschmerzen auslösen. Viele Studien haben aber gezeigt, dass der plötzliche Heißhunger auf Schokolade und Süßes schon ein Vorbote der Migräne ist und nicht der Trigger für Migräne.
Wie sich Migräne äußert und was dagegen hilft
Was ist Migräne?
Bei der neurologischen Erkrankung kommt es zu wiederkehrenden Kopfschmerzen, und zwar oft nur auf einer Seite.
Mindestens zehn Prozent der Erwachsenen leiden gelegentlich an den Attacken. Frauen sind dreimal so häufig betroffen.
Meist wird der Schmerz als pochend oder pulsierend beschrieben, manchmal auch als drückend. Bei manchen Menschen kommen Übelkeit, Erbrechen, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit hinzu.
Unbehandelt dauert ein Anfall in der Regel zwischen vier Stunden und drei Tagen.
Außerdem haben etwa zehn Prozent der Betroffenen vor Ausbruch der Schmerzen eine Migräneaura mit Sehstörungen oder neurologischen Symptomen (zum Beispiel Sprach- oder Gleichgewichtsstörungen).
Was hilft bei Migräne?
Im Akutfall helfen Ruhe und Schmerzmittel, darunter auch spezifische Migränemittel wie Triptane.
Um Attacken vorzubeugen, ist es sinnvoll, auslösende Faktoren (zum Beispiel Stress, Flüssigkeitsmangel, Alkohol, Unterzuckerung) herauszufinden und zu meiden.
Ein regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus ist für viele Betroffene wichtig. Außerdem profitieren sie oft von Ausdauersport (z.B. Joggen, Radfahren, Schwimmen) und Entspannungsmethoden wie progressiver Muskelrelaxation nach Jacobson.
Auch Akupunktur, Biofeedback und psychologische Verfahren können helfen.
Buchtipp: Gaul, Charly; Totzeck, Andreas; Guth, Anna-Lena; Diener, Hans-Christoph: Patientenratgeber Kopfschmerzen und Migräne. 4. überarbeitete und erweiterte Auflage 2020,172 Seiten. ABW Wissenschaftsverlag, Berlin. Preis: 17,95 Euro. (toll)
Wie sieht es mit Kaffee aus?
Amann-Neher: Wenn man viel Kaffee trinkt, wird vermehrt Nervenwasser produziert. Wer dann auf einmal keinen Kaffee mehr trinkt, kann Kopfschmerzen bekommen. Aber zu Kaffee gibt es sehr unterschiedliche Studien über die Wirkung. Ich habe viele Patienten, die sagen, wenn sie Migräne haben, trinken sie drei Espressi, und dann werden die Kopfschmerzen besser.
Die Attacken treten oft in Entspannungsphasen auf, also am Wochenende, wenn der Stress eigentlich weg ist. Was können Betroffene im Vorfeld ohne Medikamente tun, um solche Anfälle zu vermeiden?
Amann-Neher: Man sollte seine Auslöser kennen, wie zum Beispiel Licht, Gerüche, bestimmte Lebensmittel. Wichtig ist auch, dass man regelmäßig Pausen macht. Studien zeigen, dass Migräne-Patienten oft dazu neigen, sich sehr viel aufzubürden. Auch sollte man regelmäßig essen und trinken. Das Intervallfasten, das ja durchaus gesundheitliche Effekte hat, ist für Migräne-Patienten nicht geeignet. Dreimal die Woche leichter Ausdauersport wie Schwimmen, Joggen und Radfahren für jeweils 20 bis 30 Minuten reicht meistens aus, um die Anzahl und die Intensität der Migräne-Attacken zu verringern. Auch Meditieren und Yoga helfen.
Im Dezember 2022 hat die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft neue Leitlinien für die Therapie von Migräne herausgegeben, darunter vorbeugend die Stimulation des Trigeminusnervs. Was hat es damit auf sich?
Amann-Neher: Ja, das kann sehr gut funktionieren. Wie es funktioniert, weiß man allerdings nicht ganz genau. Möglicherweise wird der Trigeminusnerv „trainiert“, sodass die Reizschwelle für Reize von außen deutlich geringer wird. Ein kleines externes Gerät setzt elektrische Impulse. Allerdings wird das Verfahren nicht sehr häufig eingesetzt.
Doch die Krankenkasse übernimmt diese Behandlung noch nicht. Warum?
Amann-Neher: Ja, in aller Regel übernimmt die Krankenkasse die Kosten nicht, es gibt aber Einzelfälle, in denen sie nach Antrag übernommen wurden. Die Regel ist das aber nicht, nachdem dies noch nicht in den Leistungskatalog aufgenommen werden konnte. Das Gerät kostet knapp 400 Euro mit Elektrodenaufklebern für 60 Tage. Man muss es täglich für 20 Minuten anwenden. Über die Stirn wird der Nerv durch elektrische Impulse stimuliert. Doch das macht kaum einer der Patienten auf Dauer jeden Tag. Die ersten ein bis zwei Wochen ist die Motivation da, die ersten Erfolge kommen aber erst Wochen bis Monate später, und da haben viele schon frustriert aufgehört. Doch dann ist auch der positive Effekt weg. Ich empfehle es daher nur, wenn Patienten über das nötige Budget verfügen und ich mir sicher bin, dass sie ausreichend motiviert sind, das durchzuhalten. Und bei Patienten, bei denen die Basistherapie nicht ausreichend ist, die aber keine weitere Therapie mit Medikamenten wünschen.
Wir sprachen über Medikamente im akuten Fall – welche Medikamente eignen sich zur Prophylaxe?
Amann-Neher: Es gibt die Betablocker, die allerdings blutdrucksenkend wirken und müde machen. Patienten mit niedrigem Blutdruck bekommen davon Kreislaufstörungen. Bei Männern können Betablocker zu Potenzstörungen führen. Das Amitriptylin, eigentlich ein Antidepressivum, wird auch verwendet zur Migräne-Prophylaxe. Es führt zu einer starken Mundtrockenheit, macht sehr müde und kann zu Akkomodationsstörungen des Auges führen. Die Pupille erweitert und verengt sich dann nicht schnell genug, sodass man nicht scharf sieht. Flunarizin und Topiramat verschlechtern oft die Stimmung. Topiramat kann unter anderem zusätzlich Haarausfall hervorrufen.
Zur Prophylaxe gibt es die Behandlung mit CGRP-Antikörpern. Wie gut wirken diese?
Amann-Neher: Sie sind vor einigen Jahren auf den Markt gekommen. Viele Patienten berichten von einer sehr starken Verbesserung. Die Migräne ist nie ganz weg, aber die meisten Patienten sagen, es sei ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Können sich Patienten diese also einfach verordnen lassen?
Amann-Neher: Nein, leider nicht. Je nach Antikörper muss man verschiedene Vortherapien nachweisen können.
Was hat Ihnen geholfen?
Amann-Neher: Ich hatte Attacken von einmal bis zu 16 Mal pro Monat. Für die Familie fiel ich völlig aus. Heute gönne ich mir alle zwei bis drei Stunden eine Pause mit einer Tasse Tee, nehme mir Zeit für Sport und esse viel weniger Süßes – obwohl es nicht erwiesen ist, dass Süßes die Migräne pusht. Mir hilft es. Heute habe ich ein bis zwei Anfälle im Monat für ein bis zwei Stunden. Für mich ist das ein großer Erfolg! Auch bei den meisten Patienten habe ich mit Sport, Entspannung und Ernährungsumstellung eine deutliche Reduktion der Kopfschmerztage hinbekommen.