100 Jahre "Guide Michelin"
Hamburg/Paris (dpa) - Ein 6-Sterne-Menu für vier Hände war geplant, die Chefs "aller 3-Sterne-Restaurants weltweit" sollten nach Paris kommen.
Auch Harald Wohlfahrt aus Baiersbronn freute sich, am 2. März dabei zu sein, wenn die 100. Ausgabe des französischen Gourmetführers "Guide Michelin" gefeiert wird. Doch dann sagte Michelin-Direktor Jean-Luc Naret per Fax ab: "Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage" sei die Party gestrichen.
Auch eine internationale "Woche der Hohen Gastronomie" ist abgesagt. Nun wird die 100. Ausgabe in kleinerem Rahmen präsentiert, mit Schmuckeinbänden, die französische Köche und Künstler gestaltet haben. In Restaurants des Landes findet ein Kochfestival statt.
Finanzkrise = weniger Autos = weniger Reifen = weniger Werbung. Der wichtigste Hotel- und Restaurantführer der Welt ist ein PR-Instrument des französischen Reifenkonzerns Michelin, im eigenen Interesse und dem der Gastronomie. Aber der Gewinn schrumpfte 2008 um mehr als die Hälfte, und man trat in Paris auf die Kostenbremse. "Schade", meinte 3-Sterne-Koch Wohlfahrt: "Die machen ja eine für uns sehr hochstehende und unentgeltliche Werbung."
Den ersten "Guide Michelin" mit Tipps für Automobilisten gab es zur Pariser Weltausstellung 1900 noch kostenlos. Frankreich zählte 2897 registrierte Automobile, und es galt Tempo 30 auf allen Straßen. Benzindepots musste man noch beim kleinen Lebensmittelladen suchen oder auch beim Bäcker. Michelin erfand immer neue Hinweis-Piktogramme für nützliche Adressen, so ein Symbol für Hotels mit Foto- Dunkelkammer und eines für Gasthäuser ohne elektrischen Strom.
Von Anfang an versprach der Führer eine gerechte und strenge, völlig unabhängige Bewertung. "Kein pot de vin", kein Schmiergeld, warnte das kleine Reifen-Männchen. 1908 wurde denn auch die bezahlte Reklame für Hotels im Guide abgeschafft, 1919 jede andere Fremdwerbung. Doch dafür mussten die Kunden den Führer nun kaufen.
Michelin machte noch Eigenreklame für seine Pneus, "das wesentliche Organ des Autos". 1924 plakatierte er den "Schweine-Skandal" und forderte "Égalité", die Gleichberechtigung für Menschen. Denn Viehtransporter hatten damals schon Reifen mit Luftschläuchen, die Pariser Busse liefen noch holprig auf Hartgummirollen.
André Michelin gehörte zum führenden Gourmet-Club des Landes. 1926 ließ er den ersten Stern für gute Speisen drucken. Fünf Jahre danach wurde das bis heute unveränderte Wertungssystem etabliert, ganz aus der Sicht der Reisenden. 1 Stern: "Gute Küche", 2 Sterne: "Den Umweg wert", 3 Sterne: "Lohnt eine Reise".
Nur während der Weltkriege konnte der Guide nicht erscheinen. Dafür druckte der patriotische Konzern Straßenkarten für den Generalstab. 1944 unterstützte Michelin die Landung der Alliierten in der Normandie: Der US-Militär-Geheimdienst durfte die letzte Vorkriegsausgabe Ausgabe von 1939 nachdrucken. Damals gab es noch keine Satelliten-Fotos, auch kein Google und nur wenige andere Karten. So bekamen die US-Soldaten den Reiseführer mit genauen Stadtplänen - und kaum brauchbaren Gourmet-Tipps - ins Sturmgepäck, um Bayeux, Cherbourg oder Caën von den Deutschen zu befreien.
Seit 1970 empfiehlt das Reifenmännchen "Bibendum" nicht nur teure, sondern auch preiswerte Restaurants. Doch das Hauptinteresse galt schon damals den Sternen der Spitzenköche, unter denen Paul Bocuse einer der großen Rekordhalter ist. Sein Restaurant bei Lyon hat seit 44 Jahren 3 Sterne.
Der 83-jährige Bocuse steht längst nicht mehr selbst am Herd. Seinem 20 Jahre jüngeren Landsmann Joël Robuchon ist die Präsenz im Restaurant aus anderen Gründen unmöglich. Er dirigiert zwölf Restaurants auf drei Kontinenten mit insgesamt 25 Sternen. Damit ist er Rekordhalter der kleinen Gruppe der "Multi-Sterne-Köche". Die Starköche nutzen ihren Namen als Marke und verbreiten ihre Restaurant-Konzepte in alle Welt. In Las Vegas, Tokio und Macao hat Robuchon sogar 3-Sterne-Restaurants. Insgesamt 18 Sterne sammelte bisher das Küchenreich seines Landsmannes Alain Ducasse.
Michelin kann es recht sein - inzwischen publiziert man Restaurantführer für 23 Länder, in denen Auto gefahren wird. Die wechselseitige Förderung von Reifenabsatz und Kochkunst währt schon mehr als ein Jahrhundert. Also noch länger, als es André Michelin in der ersten Ausgabe 1900 vorausgesagt hatte.
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