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Sein Bild ging um die Welt: Der Volkspolizist Conrad Schumann floh im August 1961 während des Mauerbaus in den Westen. Er war der erste DDR-Flüchtling in Uniform und blieb der einzige, dessen Flucht fotografiert und gefilmt wurde.

Der Sprung seines Lebens

Foto: Peter Leibing, dpa

Als der DDR-Grenzer Conrad Schumann 1961 über den Stacheldraht nach Westberlin springt, wird er zum berühmtesten Republikflüchtling. In Bayern findet er eine neue Heimat, aber die alte verfolgt ihn.

Er ist müde. Seit über zwei Tagen fast ununterbrochen im Einsatz. Er ist von all dem so müde. Sich auf eine Wiese legen, jetzt im August, den Schafen hinterherschauen, dann wegdämmern, auf einer der schönen grünen Elbhangweiden. Das wäre was. 

Jetzt irgendwo im Grünen, nahe der LPG Käthe Kollwitz. Wo er als Schäfer angestellt war. Aber Schlaf, das wäre die falsche Flucht aus seinem alten Leben. Und fliehen will Conrad Schumann. Bloß richtig. Deshalb gilt seine Müdigkeit in diesen Augenblicken nichts, ist er zum Zerreißen gespannt. Muss es sein. Nur darf das keiner von den Genossen bemerken. Ums Verrecken nicht. Ein tiefer Zug aus der Zigarette. Rauch kann Halt geben. Er braucht ihn.

Noch. Denn Schumann will schnell weg von dort, wo er steht am Nachmittag dieses 15. August 1961. An der Front des Kalten Krieges. Mitten in Berlin, Wedding. Bernauer Ecke Ruppiner Straße. Weiter links der französische Sektor. Links die Stacheldrahtrolle, fünf Meter weiter rechts davon die Ostzone, das Haus, an dessen Wand sein uniformierter Rücken lehnt. Früher ein Eisenwarenhandel. In dieser Stunde hat er sich entschlossen. Er hat es nicht geplant. Aber er hat die Schnauze voll.

Die Fotografen, Kameraleute und die Schaulustigen im Westen sehen von drüben einen jungen Volkspolizisten ans Haus gelehnt. Der inzwischen Kette raucht. Unter den Fotografen ist auch Peter Leibing, der junge Volontär von Conti Press, einer Hamburger Bild-Agentur. Auch er sieht den 19-jährigen Oberwachtmeister Schumann mit Stahlhelm auf dem Kopf. Ein russisches MG 42 über der Schulter. Eine Mauser-Pistole am Gürtel. Schumann hat drei Mal 42 Schuss für das MG und 20 Schuss für die Mauser dabei. Den Schießbefehl gibt es für Berlin noch nicht. Aber nicht weit von hier fahren Panzer.

Am 12. August um 23 Uhr war Alarm ausgelöst worden. Seither wird auch mitten in Berlin der "antiimperialistische Schutzwall" errichtet. Walter Ulbricht lässt Westberlin einmauern. Beziehungsweise den Rest der noch offenen Grenze der DDR schließen. Erich Honecker hat ihm das organisiert. Millionen Genossen haben seit '45 rübergemacht, wollen in der Realität des real existierenden Sozialismus lieber nicht existieren. Die Diktatur droht auszubluten und damit soll Schluss sein in diesem August 1961. Schumann soll dafür sorgen, dass Schluss ist damit. Am 7. März hat er sich dafür beworben. Vielleicht ist er auch gedrängt worden. "Um die Errungenschaften unseres Staates zu schützen, meldete ich mich freiwillig zur Armee." Er hatte auch folgenden Satz auf dem Formular des Innenministeriums unterzeichnet: "Auf Grund der atomaren Aufrüstung in Westdeutschland bin ich zu der Erkenntnis gekommen, die Errungenschaften der Deutschen Demokratischen Republik mit zu verteidigen. Ich bin bereit, in den Reihen der Bereitschaftspolizei meinen Ehrendienst abzuleisten." Und: "Ich verpflichte mich, während meiner Zugehörigkeit zur Bereitschaftspolizei - selbst die Westsektoren Berlins und Westdeutschland weder in dienstlicher noch in privater Hinsicht zu betreten oder zu durchfahren. (...) Mir ist bekannt, dass Verstöße gegen diese Verpflichtung streng disziplinarisch bestraft werden."

Dem müssen sich auch die ihm untergebenen Genossen Erich Fierus und Peter Kröger verpflichtet fühlen. Im Unterschied zu Schumann tun sie das wohl auch. Schumann verraucht sein Pflichtgefühl. Zug um Zug. Und mit jeder Aufforderung von drüben, sich endlich zu trauen. Seit Tagen müssen er und seine Kameraden sich das schon anhören. Die da drüben, halten sie für "Russenknechte". Kröger und Fierus patrouillieren auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Hundert Meter die Straße rauf sind die Vopos Werner, Wehle und Werker auf Streife. Aber die sind nicht Schumanns Problem. Kröger und Fierus schon, die könnten ihn aufhalten. Was, wenn er im Stacheldraht hängen bleibt? Als von Osten her niemand schaute, hat er ihn ein bisschen runter getreten. Was, wenn sie ihn kriegen? Er wird nicht nur republikflüchtig, er wird auch Fahnenflüchtiger sein. Darauf stehen höchste Strafen. Den Fotografen gibt Schumann ein Zeichen. Sie sollen die beiden ablenken. Die Grenzer sollen sich aber nicht für Feindpropaganda ablichten lassen. Klare Anweisung. Sie drehen sich um. Wie erwartet. Es ist fast 16 Uhr.

Kröger und Fierus tragen ebenfalls Waffen. Ihre Munition ist allerdings verplompt in ihren Taschen. Was Schumann weiß. Fierus wird in einem der zahlreichen Verhöre zu Protokoll geben, dass er auf "so einen Lumpen im Kampfe schießen würde". Aber das sagt er unter Druck, als es schon zu spät ist. Schumann kann zumindest sicher sein, dass sie nicht schießen. Und er hofft, dass sie ihn nicht verdächtigen, arglos sind, ihn vielleicht sogar mögen. Sein Kompaniechef, Oberleutnant Hellmann, hatte (wie er später sagen wird) mit ihm im Juli noch eine längere Aussprache halten müssen, weil "er sich mit seiner Gruppe bei einem Ausgang durch gemeinsame Trinkerei verbrüdert hatte". Vielleicht waren damit aber auch die Genossen die Straße weiter oben gemeint. Fierus beschuldigt seine Kameraden später, sie hätten die Flucht Schumanns gesichert, hätten auf Kröger und ihn geschossen, hätten sie den Flüchtenden aufgehalten. Wehle und Werker bestreiten das.

Man brauchte einen Schuldigen. Und fand keinen. So lesen sich die Verhörprotokolle in Schumanns Stasi-Akte. Man suchte verzweifelt einen Sündenbock für diese öffentliche Schmach, die er dem System, das er in Uniform repräsentiert, zufügen wird. Auf der Westseite ist ein Polizeiwagen bis auf fünf Meter an den Stacheldraht gefahren. Nach Schumanns Zeichen hat sich im Westen leise rumgesprochen, was er vorhat.

Schumann zündet sich eine letzte Zigarette an. Angst hat er keine mehr. Bloß, weiß er, was er tut? Weiß Schumann, dass er die Familie, Bruder, Schwester, das Heimatdorf Zschochau für lange Zeit nicht wiedersehen wird? Seine Kameraden, die Freunde in Dresden. Ist ihm klar, was es heißt, ein Leben hinter sich zu lassen? Schumann weiß, er will niemand hindern, dieses Land zu verlassen. Er will sich nicht länger als "Russenknecht" beschimpfen lassen. Er weiß, dass etwas nicht stimmt, da, wo er jetzt ist. Soldaten reißen dort Kinder aus den Händen ihrer Eltern. Von West nach Ost über den Stacheldraht. Schumann will ins Leben der anderen. Er will endlich rüber.

Die hintere Tür des Polizeiwagens steht schon länger auf. Der Foto-Volontär Leibing schaut durch den Sucher. Fierus und Kröger sind auf ihrer Runde, haben den Rücken ahnungslos der Grenze zugewandt. Ein letzter prüfender Blick, eine kurze Beschleunigung gegen die Schwerkraft. Ein Volkspolizist verlässt den Staat, den er schützen soll. Wird zum Symbol einer Flucht. Weil Leibing auf den Auslöser seiner Exacta drückt, weil Schumann springt. Jetzt. 

Als es zu spät ist, dreht Fierus sich um. Er hatte Schlagen von Stiefeln auf dem Asphalt gehört. Der Schumann verschwindet im Polizeiauto. Jemand hebt sein Gewehr auf, das er während des Sprungs hat fallen lassen. Jemand drückt auf das Gaspedal des Polizeiautos. Republikflucht geglückt, Fahnenflucht auch. Für den Augenblick ist Schumann erleichtert. Man gibt ihm eine Zigarette. Hunger hat er auch. Sie haben zusammengelegt, er und die Kollegen von der Journaille, sagt Leibing, der Fotograf, für ein Leberwurstbrot.

Schumann wird dann verhört im Westen. Er erfährt, dass er der allererste Sperrposten ist, der seit Beginn des Mauerbaus geflohen ist. Währenddessen muss drüben auch Fierus Rede und Antwort stehen. Er gibt zu Protokoll: "Ich drehte mich um und sah, dass Obwm. Schumann auf der anderen Seite der Drahtsperre auf westlichem Gebiet auf dem Boden lag. Er wurde umringt von 15 bis 20 westlichen Bürgern (...) Ich sah dann weiter, wie Obwm. Schumann, immer noch von Zivilisten umringt, zu einem Wagen der Stupo geführt und von diesen abtransportiert wurde." 

Auf diese Stelle zeigt Gunda Schumann mit dem Finger und sagt: "Das stimmt so nicht." Sie hat die Stasi-Akte ihres Mannes zum ersten Mal in ihren Händen. Seinen Lebenslauf, den er für die Bewerbung bei der Polizei ausfüllen musste, mit dem Passbild. Er als junger Bursche. Ein, zwei Jahre bevor sie sich in Günzburg kennengelernt haben. Sie blättert, schnell vertieft in das, was sie da liest. Was der Fierus da sage, stimme nicht.

Gunda Schumann wird noch viel lesen in der Akte, was so nicht gewesen sein kann. Einer der Gründe ist die Art und Weise, wie man drüben zu reagieren gedenkt. Denn: "Nach Absprache mit dem Oberst der VP Hellmann wurde vereinbart, diesen Vorfall in den Einheiten der BP als Verschleppung und Menschenraub auszuwerten, da eine Fahnenflucht nicht 100-prozentig erwiesen ist. Diese Maßnahme soll dazu dienen, den Kampfgeist der BP-Angehörigen zu erhöhen und den Hass gegen das westberliner Banditentum zu verstärken."

Zum Problem wird, dass Schumann noch am Abend dem Sender Freies Berlin ein Interview gibt. Danach ist die Menschenraub-Variante überholt. Offiziell hält man noch an ihr fest, aber schon im Ermittlungsbericht des nächsten Tages ist von "Desertion" die Rede. Weitere 48 Stunden später erlässt man Haftbefehl gegen ihn.

Die gesamte Überwachungsmaschinerie läuft an, während er selbst zunächst in die Auffanglager kommt. Marienfelde ist eine Station. Ende September wird er dann entlassen. Es ist eine Zeit, in der er überhaupt nicht weiß, was werden wird. Er ist 19 Jahre alt, im Westen, allein und er hat die Stasi im Nacken. Was ihm aus seinem alten Leben aber bleibt, ist die Angst.

Er hat sie zu Recht, denn drüben werden nicht nur seine Eltern überwacht, ist die "Postkontrolle eingeleitet", wird in alle möglichen Richtungen ermittelt. Schon längst hat man "operative Maßnahmen zur Zurückholung" des Schumann angeordnet.

Allerdings erfolglos, denn Schumann ist inzwischen in Günzburg angekommen. Man hat ihm ein Angebot gemacht, er kann dort in einer Heil- und Pflegeanstalt arbeiten. Er kommt bei Familie Kreuzer unter. Es gibt dort viele Kinder, der Vater sorgt dafür, dass kein Aufheben um den Flüchtling gemacht wird. Ludwig Kreuzer, damals ein kleiner Junge, erinnert sich gerne an den Schumann. Der Große habe sie immer ein wenig beschützt bei den Fehden mit den anderen Jungs. Er war mit ihnen im Wald, liebte die Natur, die Tiere. Er bleibt der Spross einer Schäferfamilie. Ein Informant berichtet der Stasi, er sei inzwischen als politischer Flüchtling anerkannt worden.

Viel wichtiger als sein offizieller Status aber ist: Schumann ist nicht mehr allein. In der großen Kantine des Pflegeanstalt trifft er sich regelmäßig mit einer hübschen, jungen Dame. Jeden Tag zur Mittagszeit achten die beiden darauf, dass sie an einem der Vierer-Tische gemeinsam sitzen. Sie habe erst nicht gewusst, sagt Gunda Schumann, dass er der Republikflüchtling war. Es hätte auch nichts geändert. Sie heiraten, bekommen einen Sohn. Erwin. Schumann scheint angekommen. In seiner Akte, die er später, wohl auch aus Selbstschutz, nie eingesehen hat, liest sich das so: "Er schreibt aus Westdeutschland in Abständen von ca. 14 Tagen (...): Es gehe ihm gut, er lernt Krankenpfleger und will Staatsexamen machen. Er geht sonntags zur Kirche. Hört die Musik der Deutschlandsender, nur die Nachrichten ekeln ihn an. (...) Er treibt viel Sport, Schwimmen und Ski-Lauf. Er ist dort in einer Sportgemeinschaft organisiert."

1963 kauft Schumann sich sein erstes Auto, einen VW-Käfer. Einer Zeitung sagt er: "Nun habe ich es geschafft." Ob er das wirklich glaubt? Er hat jetzt eine neue Familie. Aber das Leben drüben kann er nicht vergessen. Was macht seine Mutter Elsbeth? Die kleine Schwester, der große Bruder? Es wird noch dreizehn Jahre dauern, bis er seinen Vater zum ersten Mal wiedersehen wird. Was denken sie von ihm? Sind sie enttäuscht, verzweifelt? Was sagt man ihnen? In einem russischen Geheimdokument heißt es: "So zum Beispiel überredete der Korrespondent der französischen Illustrierten Paris Match den jungen Angehörigen der Volkspolizei, Schumann, nach Westberlin zu fliehen, indem er dafür 1000 Westmark zahlte." Auch wenn das nicht stimmt. Welche ihrer vermeintlichen Geheimdiensterkenntnisse verwenden die Beamten für ihre Propaganda? Glauben die Eltern, er habe sie für Geld verraten und verlassen? Es wird eine schwierige erste Begegnung mit dem Vater werden. 1976 darf er das erste Mal in den Westen reisen.

Bis dahin geht das Leben weiter. Erwin wird größer. Schumann arbeitet dann in einer Weinkellerei. In der Heilanstalt hatte ihm ein Patient die Nase mit einem Stuhl gebrochen. 1970 zieht die Familie erst nach Kipfing, später dann nach Oberemmendorf, wo Gunda geboren wurde. Das Altmühltal wird Schumanns letzte Heimat. Er bekommt einen Job bei Audi in Ingolstadt. Der FC Bayern bringt ihn zum Schreien, bei schlechten Spielen. Ansonsten ist er ein ruhiger Typ. Pathos ist seine Sache nicht. Für die Stasi bleibt er das Fahndungsobjekt 101615. "Du weißt gar nicht, wie viele die auf mich angesetzt haben", habe er immer gesagt.

Auch weil er Haltung zeigt. Er engagiert sich in der Arbeitsgruppe 13. August. Erzählt immer wieder öffentlich von seiner Flucht. Von drüben gesehen ist "FF (Fahnenflüchtiger) feindlich aktiv". Ronald Reagan lädt ihn ein, als Berlin 750-jähriges Stadtjubiläum feiert. Er ist einer der Stargäste auf der Berliner Bühne, damals 1987. Seine Frau schwärmt noch heute davon. Natürlich ist das auch Westpropaganda. "Hetzpropaganda" sagt man drüben. Die Rechnung kommt prompt. Im gleichen Jahr erlässt die DDR eine Generalamnestie. Für Schumann wird notiert: "FF von Generalamnestie ausgeschlossen."

Bereut habe er den Sprung nie, sagt Schumann immer wieder. Und dann fällt 1989 die Mauer. Den ganzen Tag habe das Telefon geklingelt, sagt Gunda Schumann. Selbst aus Neuseeland hätten sie angerufen. Wollten wissen, was der berühmteste Republikflüchtling der Welt sagt. Dabei war er bei Audi in der Schicht. Hatte nichts mitbekommen und war einfach fassungslos.

Wäre er dem Ruhestand schon näher gewesen, er wäre wieder in seine Heimat nach Zschochau gezogen. "Das hätte der sofort gemacht", sagt seine Frau: "Und ich wäre mit." Seine Familie, Freunde, viele dort hatten Verständnis für seine Flucht nach drüben. Es gab aber immer noch die, die nie Verständnis hatten. Die Mauer war weg, die Stasi-Schergen nicht. Die Angst wurde nicht weniger nach der Wende. Schumann litt wohl auch an Depressionen. Es gibt viele Spekulationen. Sie führen nirgendwohin.

Am 20. Juni 1998 packte Gunda Schumann irgendwann eine Unruhe. Ihr Mann war eben mal in den Garten. Sie macht sich auf den Weg. Sie findet ihn im Schuppen. Er hatte sich eine Schlinge um den Hals gelegt. Dann war er gesprungen. 

Diese am 7. November 2009 erschienene Titelgeschichte des Wochenendjournals wurde 2010 bei der Verleihung des Axel-Springer Preises für junge Journalisten als „herausragende Leistung“ ausgezeichnet.