

Ausgebeutet und vertrieben: Das Elend der Erntehelfer in Apulien
45.000 Flüchtlinge arbeiten für Hungerlöhne in Apulien. Sie leben in Barackensiedlungen, die zum Teil die Mafia beherrscht. Nun werden die Camps geräumt.
Der junge Mann mit Baseballkappe und Adiletten sitzt auf seinem grünen Fahrrad und blickt in Richtung Osten. Man hört die Dieselmotoren der Schaufelbagger, die hinter den Baracken angerollt kommen. Polizisten mit Schlagstöcken und Schutzschilden bahnen ihnen den Weg. Zwei Männer mit weißen Helmen von der Stromversorgungsgesellschaft kappen die Stromleitungen, die wie dicke Urwald-Lianen von Hütte zu Hütte hängen. Feuerwehrleute mit Brecheisen und Motorsäge klopfen an den Hütten an, um die Schlafenden vor der Räumung zu warnen.
Der Mann aus Gambia will seinen Namen nicht nennen, nennen wir ihn Ibrahim. Ibrahim hat Traurigkeit in seinen dunklen Augen. „Wenn sie meine Hütte auch kaputt machen, wo soll ich dann hin?“, fragt er. Am Bahnhof von Foggia schlafen? Nach Neapel gehen, nach Rom, nach Frankreich oder Spanien, vielleicht zurück nach Afrika? Ibrahim, man sieht es ihm an, hat keine Ahnung, was er machen soll. Jetzt bricht sich Hass in ihm Bahn. Es gebe doch auch Europäer, die in Afrika arbeiteten. „Wenn die Italiener das hier mit uns machen, gehe ich zurück nach Afrika und töte sie“, sagt Ibrahim.
Süditalien, Apulien, der Absatz des italienischen Stiefels. Es ist heiß, Beginn der Tomatenernte. Geschätzt 45.000 vor allem afrikanische Erntehelfer sind hier in den Sommermonaten, um für Hungerlöhne in der sengenden Hitze die Früchte aus den Feldern zu klauben. Die landen dann oft zu Schleuderpreisen in Konserven im europäischen Großhandel.
In der Provinz Foggia liegt auch der Weiler Borgo Mezzanone, eine Straßenkreuzung mit Supermarkt, Bushaltestelle und zwei Bars. Zwei Kilometer von der Kreuzung entfernt liegt „la pista“, die an diesem Tag geräumt werden soll. „Die Piste“ ist ein ehemaliger Militärflughafen, auf dem die Auswüchse der illegalen Immigration in Italien mit Händen zu greifen sind. Dutzende Wellblechhütten und aus Sperrmüll zusammengehämmerte Baracken erstrecken sich über die ehemalige Landebahn, die direkt neben einem staatlichen Aufnahmelager liegt. Es riecht nach Aas.
An den Rändern dieser süditalienischen Favela häufen sich angekokelte Müllberge, Reste werden verbrannt. Weil es in den Tagen zuvor geregnet hat, muss man durch stinkenden Schlamm waten, um voranzukommen. Auf der Suche nach Futter streunt ein zotteliger Hund durch die Misere. Junge Männer reißen in Eile das Wellblech von den Hütten, um es nach der Räumung andernorts wieder zu verwenden.

Auf den Feldern herrschen sklavenähnliche Zustände
Es gibt improvisierte Supermärkte wie den „Afghan Shop“, betrieben von afghanischen Flüchtlingen. Es gibt Bars, in denen man auch an diesem Sommermorgen Kaffee aus der Thermoskanne bekommt, einen Friseursalon. Dass es sich beim „Family Restaurant“, einer windschiefen Baracke aus Holz, wirklich nur um eine Gaststätte handelt, ist unwahrscheinlich. „The food is ready“ (Essen ist fertig), ist mit roter Farbe auf die Hüttenwand geschrieben. Das ist der Code dafür, dass im Inneren Prostituierte ihre Dienste anbieten. Ab zehn Euro ist man im Geschäft, auch Italiener kommen. Mehrere solcher Billigbordelle sind über das Getto verteilt.
Ein Mann ist gerade aufgestanden und putzt sich vor seinem abgewrackten Wohnwagen die Zähne, den weißen Schaum spuckt er auf den Boden. Wenn man die Piste Richtung Süden weitermarschiert, wird es unangenehm. Eine Gruppe von Schwarzen steht vor einer Baracke, laute Reggae-Musik kommt aus der Behausung, die Jungs stoßen mit Jack-Daniels-Whiskey an. Es ist acht in der Früh, die Männer wirken wie immun gegen die anrückende Staatsgewalt.
Im Inneren der Baracke befindet sich eine der Drogenhöhlen von Borgo Mezzanone. Die nigerianische Mafia „Black Axe“, die hier mit der italienischen Mafia auch die Prostitution organisiert, kontrolliert das Camp. Weiße sind hier als Kunden geduldet, sonst nicht. Auch die Grenzen zwischen Organisierter Kriminalität und der Ausbeutung der Erntehelfer sind fließend. Die sogenannten Caporali, weiße oder schwarze Organisatoren, holen die Billigarbeiter früh morgens mit verrosteten Kleinbussen im Getto zur Tomatenernte ab.
150 Euro für zwei Monate kostet ein Schlafplatz auf einer verdreckten Matratze in einer der Hütten, für die Busfahrt aufs Feld berechnet der Caporale drei Euro, das Panino mittags kostet zwei Euro, die Flasche Wasser einen Euro. Ein Erntehelfer verdient zwischen 2,50 und 3,50 Euro pro geerntetem Zentner Tomaten. Bei 13 Stunden Arbeit kommt er auf 40 Euro am Tag. Das sklavenartige System, auf das sich die gesamte Landwirtschaft der Provinz stützt, funktioniert, weil die Migranten keine Dokumente und deshalb keine Rechte haben.

Hat der italienische Innenminister Matteo Salvini deshalb nicht Gründe genug, Lager wie in Borgo Mezzanone, wo seit Jahren zur Erntezeit etwa 2000 Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben, räumen zu lassen? Etwa 20 kleinere solcher Lager gibt es allein in der Provinz Foggia. Im März wurde die Barackensiedlung von San Ferdinando in Kalabrien geräumt, Stoßzeit war hier im Winter während der Ernte der Zitrusfrüchte. Gerade hat Salvini das staatliche Aufnahmelager in Mineo auf Sizilien schließen lassen, im Januar machte das Lager in Castelnuovo di Porto bei Rom dicht. Beide waren Symbole der gescheiterten Immigrationspolitik Italiens. Soziale Kooperativen bereicherten sich am Geschäft mit den Flüchtlingen, die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität verschwammen.
Zur Zufriedenheit eines Gutteils der Italiener greift Salvini, Vizepremier, Parteichef der rechten Lega und starker Mann der italienischen Politik, nun durch. Aber was bedeutet das für Länder, die Migranten wegen der Dublin-Verordnung nach Italien abschieben? 3000 Menschen wurden bis Juni 2019 aus EU-Ländern nach Italien zurückgebracht, allein 1000 Migranten aus Deutschland. Die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge im Süden leben, sind erbärmlich und oft alles andere als akzeptabel.
Welcher Wind inzwischen in Italien weht, hat auch Don Andrea Pupilla mitbekommen. Pupilla ist Leiter der Caritas in San Severo, einer von der Mafia unterwanderten Kleinstadt und Anlaufstelle für Tausende Migranten. Dienstagnachmittags berät die Caritas die Migranten mithilfe einer Anwältin. Sogar bei den gemeinsamen Mittagessen mit den anderen Priestern aus San Severo steht Pupilla nun alleine da. „Sie sagen alle, Salvini hat recht.“ Der 38-jährige Priester hat vor allem eine Frage, es ist dieselbe, auf die auch Ibrahim, der wütende Mann aus dem Getto, noch keine Antwort hat: „Wo sollen die Migranten denn hin, wenn ihre bisherigen, inakzeptablen Bleiben dem Erdboden gleichgemacht werden?“

Mit der harten Linie weil man die Nachzügler abschrecken
Das Land verlassen sie nicht, es ist ihnen ohne Dokumente auch kaum möglich. Zudem fühlen sich die meisten verpflichtet, den zurückgebliebenen Familien wenigstens ein wenig Unterstützung zukommen zu lassen. Die Rückkehr ist auch aus Scham für die meisten nicht denkbar, sie käme dem Eingeständnis des Scheiterns gleich. Abschiebungen gibt es wenige. 13 Monate nach Antritt der Regierung leben immer noch geschätzt eine halbe Million Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis in Italien.
Wenn man Sozialarbeiter oder Gewerkschafter befragt, die sich für die Rechte der Migranten in Apulien einsetzen, ergibt sich folgender Eindruck: Die italienische Regierung fährt eine Taktik der verbrannten Erde. Schließung der Gettos und Lager, Zermürbung der Migranten, bis diese nicht mehr können. Im Hintergrund könnte die Hoffnung stehen, dass sich die miserablen Verhältnisse irgendwann herumsprechen und Nachzügler abgeschreckt werden. Das Parlament in Rom hat seinen Teil zur Daumenschraube beigetragen. Die Abgeordneten schafften den Schutz aus humanitären Gründen ab. Immer weniger Migranten bekommen einen Aufenthaltstitel, der sie zum Bleiben berechtigt. „Was sollen sie machen?“, fragt Don Pupilla. „Sie ziehen weiter und bauen anderswo das Getto wieder auf.“
Auch Mohammad Abdul Fatah ist am Dienstag zur Beratung der Caritas gekommen. Der Ghanaer wartet auf seine Dokumente, die einfach nicht kommen wollen. Die Anwälte, an die er sich wendete, gehen nicht mehr ans Telefon. Mohammad ist dünn, sein rechter Arm hängt seit einem Unfall schlaff an seinem Oberkörper herab. Auch der 35-Jährige lebte in einem der Gettos, bis er sich dazu entschied, zu gehen. Das war vor sechs Jahren, im Jahr 2013.
"Im Winter ist es fürchterlich kalt."
Für den nächsten Morgen hat sich Mohammad bereit erklärt, sein jetziges Zuhause herzuzeigen. Es liegt in einer Linkskurve, 30 Kilometer nördlich von San Severo, zwei Kilometer südlich der Ortschaft Serracapriola. Zwei Metallbaracken, in denen früher die Geräte der Straßenarbeiter aufbewahrt wurden, stehen in der Hitze. Er teilt das Lager mit einem Freund. Ein Heer von Schmeißfliegen braust auf, als er sich nähert. Mohammad nutzt einen Plastikeimer als Dusche, seine Notdurft verrichtet er in der Wiese. Strom gibt es nicht, ein Gaskocher wurde ihm gestohlen. Abends entfacht er ein Feuer in der Koch-Hütte, um Reis oder Polenta zu kochen. Manchmal wird ihm in einem der Lebensmittelläden des Dorfes eine Packung Nudeln geschenkt. Das Leintuch auf seinem Bett ist braun vor Schmutz.
„Im Winter“, sagt Mohammad, „ist es fürchterlich kalt.“ Die Helfer von der Caritas bringen dann Decken und ein paar Konserven. Sein Kleiderschrank ist eine Leine, die er in der Hütte aufgespannt hat. Hinter der Baracke hat Mohammad eine Wasserleitung angezapft. Mit dem Rinnsal, das aus der Leitung tropft, bewässert er einen kleinen Garten, in dem er Auberginen, Peperoncino und Okra angepflanzt hat. Der Garten ist unscheinbar. Unter diesen Bedingungen wirkt er jedoch wie der einzige Trost.
