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Britische Regierung plant umstrittene Gefängnisreform zur Entlastung des Systems

Großbritannien

Britische Regierung plant umstrittene Gefängnisreform

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    Im Wandsworth-Gefängnis in London herrschen chaotische Zustände. Es steht für das Versagen des gesamten britischen Justizvollzugssystems.
    Im Wandsworth-Gefängnis in London herrschen chaotische Zustände. Es steht für das Versagen des gesamten britischen Justizvollzugssystems. Foto: Sabrina Merolla/ZUMA Press Wire/dpa

    Es sind Bilder, die haften bleiben: In der Dokumentation „Wandsworth Prison: Out of Control“ (auf Deutsch: Das Wandsworth Gefängnis: Außer Kontrolle) des britischen Senders Channel 5 hält ein Häftling eine tote Ratte vor eine Kamera. „Schaut her, unter welchen Bedingungen wir hier leben“, sagt er. Weitere Videos und Fotos zeigen verschimmelte Duschanlagen und heruntergekommene Zellen.

    In einem der berüchtigtsten Gefängnisse Londons, in dem kurzzeitig auch der frühere Tennis-Star Boris Becker wegen Insolvenzverschleppung einsaß, sind die Zustände so chaotisch, dass von einem funktionierenden Justizvollzug kaum noch die Rede sein kann. Die Reportage bringt den Briten nicht nur erschreckende Einzelschicksale nahe, sie legt tiefgehende Missstände offen: Überbelegung, Personalmangel, veraltete Infrastruktur, Gewalt unter Insassen, Korruption. Und Wandsworth ist kein Einzelfall. Es steht für ein System, das längst über seiner Belastungsgrenze hinaus operiert.

    Das System steht immer wieder kurz vor dem Kollaps

    So sind die Gefängnisse in England und Wales überfüllt. Derzeit sind in ihnen knapp 88.000 Menschen untergebracht. Das liegt zwar noch knapp innerhalb der offiziell zulässigen Kapazität, aber über dem, was als sicher oder menschenwürdig gilt. Die Zahl der Häftlinge wächst schneller, als der Staat Personal ausbilden oder neue Plätze schaffen kann – weil die Gerichte deutlich längere Strafen verhängen und immer mehr Menschen in Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten müssen.

    Ex-Tennisstar Boris Becker saß kurzzeitig im Wandsworth-Gefängnis ein.
    Ex-Tennisstar Boris Becker saß kurzzeitig im Wandsworth-Gefängnis ein. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

    Nachdem die Regierung im vergangenen Jahr Hunderte Gefangene in einer Notmaßnahme vorzeitig entlassen musste, um einen Kollaps des Strafvollzugs zu verhindern, soll ein radikaler Kurswechsel nun langfristig Abhilfe schaffen. Die britische Labour-Regierung plant auf Grundlage eines von Ex-Justizminister David Gauke geleiteten Gutachtens die umfassendste Reform des Strafvollzugs seit den 1990er-Jahren. Ihr Ziel: Das System soll entlastet werden – möglichst rasch und auch durch umstrittene Maßnahmen. Denn, so betonte die Labour-Justizministerin Shabana Mahmood: „Mit Neubauten allein kommen wir aus dieser Krise nicht heraus.“

    Wer eine Standardstrafe absitzt, also einen normalen, befristeten Freiheitsentzug ohne spezielle Sicherungsauflagen, soll künftig bei guter Führung nach einem Drittel der Zeit entlassen werden. Auch verurteilte Sexualstraftäter oder Täter im Bereich „häusliche Gewalt“ könnten somit frühzeitig freikommen. Was dem folgen soll, ist ein gestuftes System: Zunächst werden die Straftäter intensiv durch die Bewährungsbehörde kontrolliert, indem sie etwa eine elektronische Fußfessel erhalten. Danach endet die aktive Überwachung, jedoch können die freigelassenen Straftäter bei neuen Verstößen sofort wieder inhaftiert werden.

    Die Regierung prüfe gemeinsam mit einigen Kommunen außerdem, wie Täter zu gemeinnütziger Arbeit eingesetzt werden können – „sei es durch das Stopfen von Schlaglöchern oder das Aufräumen von Müll“, sagte Shabana Mahmood. Überdies könnten häufiger Geldstrafen, Fahr- sowie Reiseverbote oder auch Stadionverbote bei fußballbezogenen Straftaten statt Freiheitsentzug verhängt werden. Ausländische Straftäter mit Haftstrafen unter drei Jahren könnten für eine Abschiebung in Betracht gezogen werden, hieß es.

    Kritiker warnen vor neuen Risiken für die Öffentlichkeit

    Besonders kontrovers diskutiert wird die chemische Kastration – fachlich eine hormonelle Therapie zur Reduzierung sexuellen Verlangens. Ihr Einsatz soll künftig auf 20 Gefängnisse in England und Wales ausgeweitet werden. Bislang war es eine freiwillige Entscheidung, sich dem Verfahren zu unterziehen. Die Regierung prüft, ob es bei bestimmten Tätergruppen verpflichtend werden kann. In Fachkreisen ist die hormonelle Therapie höchst umstritten – zu groß sind die ethischen und medizinischen Bedenken. In Deutschland beispielsweise ist die Anwendung bei Sexualstraftätern nur auf freiwilliger Basis und unter strengen Auflagen erlaubt. Polen hingegen schreibt eine solche Behandlung seit 2010 insbesondere bei Kindesmissbrauch gesetzlich vor.

    Die Gefängnisreform soll die Haftanstalten auf der Insel um rund 10.000 Insassen bis 2028 entlasten. Doch Kritiker warnen vor neuen Risiken für die Öffentlichkeit – vor allem, wenn gefährliche Täter zu früh auf freien Fuß gelangen. Die Aktivistengruppe Justice for Victims (Gerechtigkeit für Opfer) erklärte, die geplanten Maßnahmen würden zudem die von Gewaltverbrechen Betroffenen ignorieren. „Es gibt keine Entschuldigung dafür, die schlimmsten Straftäter noch früher aus dem Gefängnis zu entlassen.“

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