Wie viele Menschen es genau waren, die an diesen beiden Sommertagen des Jahres 1996 nach Knebworth kamen, um Oasis zu sehen? Die offiziellen Zahlen liegen bei etwa 300.000. Es dürften aber weitaus mehr gewesen sein, da viele ihr Glück auch ohne Ticket versucht hatten. Vier Prozent der damaligen Bevölkerung Großbritanniens hatten sich um Karten beworben. Etwa zwei, drei Jahre lang war Oasis die größte Band der Welt – und die Mega-Konzerte in der Grafschaft Knebworth nördlich von London stellten den Höhepunkt des Hypes um sie dar. Die Doku „Supersonic“ aus dem Jahr 2016 zeigt, wie die Szenerie selbst die sonst so breitbeinige Band beeindruckte: Vor Konzertbeginn flogen die Musiker demonstrativ mit dem Helikopter über die Zuschauermenge. Mit offenen Mündern staunten Noel und Liam Gallagher dabei über die scheinbar endlosen Menschenmassen. Bandleader Noel fasste das Erlebte später so zusammen: „Wir wollten uns nicht blamieren, indem wir fünf Konzerte ansetzen und am Ende kommt keiner mehr. Heute wissen wir: Wir hätten zehn Konzerte geben können – und alle wären ausverkauft gewesen.“
29 Jahre nach Knebworth wirkt es, als ob die Zeit zurückgedreht worden ist: Am 4. Juli findet in Cardiff das erste Konzert der Band seit ihrer Wiedervereinigung statt. Und in Großbritannien dreht sich alles wieder um Oasis – und alle wollen ihren Teil daran abhaben. Adidas hat eine Kollektion mit der Band veröffentlicht, im ganzen Land werden Pop-up-Stores eröffnet. Die sind bereits völlig überrannt: Wer sich für Tassen, T-Shirts oder Babystrampler mit Oasis-Print interessiert, wird gebeten, sich über ein kostenloses Ticket eine Eintrittszeit zu reservieren. In Manchester bietet ein Pub kostenlose Gallagher-Haarschnitte an. Oder die britische Aldi-Kette: Seit Wochen verkauft sie in ihren Supermärkten einen Champagner namens „Supernova“ – eine Anspielung an den Song „Champagne Supernova“. Dessen Refrain könnte in diesen Tagen nicht passender sein: „Where were you while we were getting high?“ Wo wart ihr, als wir high wurden?

Reunion: Oasis geben 41 Konzerte, drei Millionen Tickets wurden innerhalb Stunden verkauft
Diesmal, so scheint es, machen Oasis nicht den Fehler, zu wenige Konzerte zu geben: 41 Auftritte in Großbritannien, Irland, Nordamerika, Südamerika, Asien und Australien sind angesetzt. Als die Tickets vor einem knappen Jahr in den Handel kamen, waren sämtliche Konzerte innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Die Band hatte die Sensation der Wiedervereinigung mit den Worten angepriesen: „Das große Warten ist vorbei. Kommt und seht. Es wird nicht übertragen.“
Dass Oasis überhaupt noch einmal zusammen auftreten würden, war zwischenzeitlich undenkbar. Im August 2009 hatte Noel Gallagher die Band verlassen, weil er „keinen weiteren Tag“ mit seinem Bruder aushalten könne. Es schien der endgültige Schlusspunkt in einer Beziehung zu sein, die mit „kritisch“ noch sehr zurückhaltend beschrieben ist. Peggy Gallagher, die Mutter der beiden, fasste es so zusammen: „Noel hat viele Knöpfe. Und Liam liebt es, diese Knöpfe zu drücken.“ Schon während der Hochzeit der Band ging es selten harmonisch zu. Bei den Brit Awards sagte Noel über seinen Bruder, den er nur halb-liebevoll „R Kid“ (unser Kind) nennt: „Er könnte auch alleine in der Kategorie ,Beste Band‘ antreten. Er hat sieben Persönlichkeiten.“ Eine CD, die nur die gegenseitigen Beschimpfungen versammelte, schaffte es in den 90ern auf Platz 57 der britischen Charts.

Die Dynamik der Brüder sei das gewesen, was die Band ausgezeichnet habe, heißt es immer wieder. Oasis jedenfalls wurden zusammen mit Blur zu einer der wichtigsten Bands des Britpop. Aus „Rule Britannia“, der patriotischen Formel aus dem 18. Jahrhundert, wurde 1996 „Cool Britannia“ – ein Sammelbegriff für zeitgenössische Kunst und, na ja, eben Coolness. Cool Britannia – das waren Regierungschef Tony Blair und New Labour. Waffenstillstand auf der irischen Insel und offene Grenzen in Europa. David Beckham und die Spice Girls. Die Stardesigner Alexander McQueen und Stella McCartney. Die Bands, auch eine wie Pulp. Und eben Noel und Liam Gallagher – diese beiden Prolls aus Burnage, dem Arbeiterviertel Manchesters: Oasis. Auf dem Cover der Vanity Fair 1997 waren Liam Gallagher und seine damalige Frau Patsy Kensit nur in Unterwäsche bekleidet und in eine Union-Jack-Flagge eingewickelt. Betitelt war das Ganze mit London Swings! Again! Es war eine Stimmung des Aufbruchs, des Optimismus – und Oasis lieferten den Soundtrack dazu.
Live Forever: Oasis waren ein Gegenentwurf zum Grunge von Nirvana
In dieser Zeit entstanden Hymnen wie „Live Forever“, „Don't look back in Anger“ oder „Wonderwall“. Lieder, bei denen man selbst zumindest für die Dauer des Refrains glaubte, unverwundbar oder gar unsterblich zu sein, wie es in „Live Forever“ heißt. Es ging um Lebenslust, das Gefühl von Unverwundbarkeit, den Exzess. „Maybe I hust wanna fly / wanna live, don‘t wanna die“ - vielleicht will ich nur fliegen, will fliegen und nicht sterben. Es war ein Gegenentwurf zur Todessehnsucht und dem Selbsthass der Grunge-Bewegung, die in den 90er-Jahren aus den USA kam und für die Nirvana mit Kurt Cobain standen. Und dennoch: Unverwundbar waren Oasis als Band zu keiner Zeit. Noel sagte Jahre nach dem Ende, Oasis sei wie ein Ferrari gewesen: „Großartig anzusehen. Toll zu fahren. Und ständig geriet alles außer Kontrolle.“

Während einer US-Tour setzte sich Noel einige Tage von der Band ab und brachte danach „Talk Tonight“ mit, das von seiner Odyssee durch Amerika erzählt. Die Aufnahmen für das „MTV Unplugged“, einer Akustik-Aufnahme des gleichnamigen Musiksenders, fanden ohne Liam statt, weil dieser nach einem Streit keine Lust hatte. Stattdessen tauchte er pöbelnd auf einem Balkon in der Konzerthalle auf. Und dann kam es zu jenem denkwürdigen Abend während des Rock-en-Seine-Konzerts bei Paris: Während des Auftritts von Bloc Party verkündete deren Sänger, dass Oasis nicht auftreten werden. An diesem Tag nicht und nie mehr wieder. Es sei aus. Wenig später ging die Meldung von der endgültigen Trennung über die Ticker.
Oasis, das war die Quintessenz jenes Augustabends, schienen endgültig Geschichte zu sein. Liam formte mit den verbliebenen Bandmitgliedern zunächst die Band Beady Eye, erlebte schwierige Zeiten und rappelte sich als Solokünstler wieder zu einer bemerkenswerten Form auf. Noel startete mit den brillanten High Flying Birds eine Band, die faktisch sein Soloprojekt ist. Dass beide jemals wieder zusammen auf der Bühne stehen sollten, wurde mit jedem Tag, an dem sie sich mit öffentlichen Beleidigungen überzogen, unrealistischer. „Liam ist ein wütender Mann mit einer Gabel in einer Welt, die aus Suppe besteht“, sagte Noel. Als er später eine Fragerunde für Fans auf Twitter veranstaltete, kam ein Beitrag auch von Liam. Er lautete: „Warum bist du so ein Riesenarsch?“
„Dann schreibt Noel wieder Songs für Liam“: Die Oasis-Reunion wurde zum Heiligen Gral
Oasis waren vorbei – und waren es doch nicht. Die Brüder spielten die Songs der Band auf ihren Konzerten, wenn auch im Fall von Liam erst, nachdem es ihm der Urheber Noel gestattet hatte. Eine Wiedervereinigung von Oasis wurde zu einer Art Heiligen Gral der Musikbranche: eine der größten Hoffnungen, an die aber keiner so recht glaubt. Noel und Liam, die wieder zusammen Musik machen? Hörte sich schön an. Eine Welt ohne Hunger, Gewalt und Atomwaffen auch. Aber warum sollte man nicht träumen dürfen? Die deutsche Band Kraftklub formulierte das 2012 in „Songs für Liam“ so: „Die Welt geht vor die Hunde, Mädchen, traurig aber wahr / Doch wenn du mich küsst, schreibt Noel wieder Songs für Liam / Wenn du mich küsst / Kommen unsere Freunde zurück aus Berlin / Und wenn du mich küsst / Dann ist die Welt ein bisschen weniger scheiße“.
Ob aber Kraftklub-Sänger Felix Kummer, der diese Zeilen verfasst hatte, Oasis jemals live erlebt hat, ist fraglich. Als die Band sich auflöste, war er 20 Jahre alt. Zugleich zeigt das Beispiel Kummers: Die Musik von Oasis lebte stets weiter. Als Liam im Juni 2022 für zwei Konzerte nach Knebworth zurückkehrt, ist es keineswegs so, dass nur die Generation 40 plus im Publikum ist. Eine Konzertdokumentation zeigt, wie viele junge Menschen jedes Wort jedes Oasis-Songs mitsingen, obwohl sie die Band niemals live erlebt haben können.
„Das ist es. Es passiert“: Die Reunion von Oasis schlug ein wie eine Bombe
Gerüchte über eine Reunion kamen immer wieder auf. Auch Noel und Liam heizten diese stellenweise mit an – wohl aber auch, um für ihre jeweils aktuelle Platte oder Tour zu werben. Vor rund zwei Jahren schien wieder eine eher durchschaubare Marketingoffensive dieser Art anzulaufen: Sollte der Lieblingsklub der beiden Gallaghers, Manchester City, die Champions League gewinnen, kündigte Liam via X an, er werde „die Band wieder zusammenbringen“. Tat der Verein bekanntlich – und erstmals schlug auch Noel andere Töne als sonst an. „Ruf mich an und sag, was du zu sagen hast“, sagte er in einem Video-Interview in die Kamera. An eine Reunion glaubte trotzdem niemand – selbst als zum 30. Jahrestag des Erscheinens von „Definitely Maybe“ etwas angekündigt wird. Und dann geschah das Unvorstellbare: Am 27. August 2024 gab Oasis bekannt, dass man wieder Konzerte geben werde. „Das ist es, es passiert“, lautet der schlichte Zusatz. Dazu gibt es ein Foto, das die Brüder zeigt. Oasis waren, nein: sind zurück. Die Tickets gehen innerhalb weniger Stunden weg – ein Ärger über die Preispolitik des Anbieters Ticketmaster inklusive. Teilweise wurden für eine Karte 1200 Euro verlangt.
„Oasis haben uns daran erinnert, warum es Musik eigentlich gibt“
Schreibt Noel jetzt wieder Songs für Liam? Nein, es wird keine neuen Lieder geben. Ist die Welt jetzt wirklich wieder besser? Vielleicht. Haben sich die Brüder wirklich versöhnt? Waffenstillstand trifft es wohl eher. Stattdessen gibt es eine große Geheimniskrämerei. Zu den Proben, die an wechselnden Orten stattfinden, reisen beide getrennt an. Es gibt keine Interviews, nur kurze Statements. Man sei mit den Proben fertig, lässt Noel am vergangenen Samstag verlauten. Für die Bewerbung der Reunion gibt es ein einziges Fotomotiv. Erst im Rahmen der Adidas-Werbekampagne tauchte ein zweites Bild kürzlich auf. Dem Vernehmen nach sollen beide Gallaghers aber dafür nicht einmal im selben Raum gewesen sein.
Drei Millionen Menschen haben sich weltweit ein Ticket für eines der Konzerte gekauft. Die Erwartungshaltung ist gigantisch. Thees Thees Uhlmann schrieb im Spiegel: „Himmel, die Männer werden heulen“ und hat damit wohl Recht. Auf einer der größten Oasis-Fanseiten erschien vor wenigen Tagen ein Text, der vielen aus der Seele spricht: „Oasis sind nicht nur ins Rampenlicht zurückgekehrt – sie haben uns daran erinnert, warum es Musik eigentlich gibt: Sie geben uns das Gefühl, nicht aufzuhalten zu sein. Verbunden. Als ob die Worte und der Lärm dir gehören. Rock 'n' Roll ist kein Trend. Er ist ein Puls – und zum ersten Mal seit Jahren schlägt er wieder.“
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