
Thilo Sarrazin, der Außenseiter

Ausnahmezustand im Berliner Pressehaus: Thilo Sarrazin stellt sein neues Buch vor. Sitzt ruhig, gelassen und in sich ruhend im Zentrum des Hurrikans und will die Aufregung, die er ausgelöst hat, nicht verstehen.
Solche Szenen spielen sich nicht einmal ab, wenn die Bundeskanzlerin zu einem ihrer raren Auftritte vor den Hauptstadt-Journalisten erscheint.
Polizisten in Uniform sind an diesem Montag rund um das Gebäude der Bundespressekonferenz im Regierungsviertel postiert und überwachen alle Zufahrten und Zugänge. Einlass in den Saal erhalten nur akkreditierte Journalisten. Bodyguards sichern den Raum und halten eine Gasse frei, die Sitzplätze reichen bei Weitem nicht aus, Heerscharen von Fotografen und Kameraleuten balgen sich um die besten Plätze vor dem Podium und sorgen für ein wahres Blitzlichtgewitter.
Ausnahmezustand im Pressehaus. Und der, der ihn auslöst, scheint ihn geradezu zu genießen. Thilo Sarrazin, 65 Jahre alt, zum Zeitpunkt seines Auftritts noch Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, zuvor Finanzsenator von Berlin, Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn AG, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und vieles andere mehr, steht selbstbewusst auf dem Podium und blickt ungerührt in den überfüllten Raum. Seit Tagen bestimmt er mit seinen Thesen zur Zuwanderung, über Defizite bei der Integration, die drohende Überfremdung Deutschlands und das Versagen der Einwanderer muslimischen Glaubens die Schlagzeilen. Auszüge aus seinem Buch "Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" sorgen in der politischen Landschaft für Furore. Mit Äußerungen, in denen er für die Intelligenz der Juden ein besonderes Gen verantwortlich macht, heizt er am Wochenende zusätzlich die öffentliche Debatte an. Die Empörung und Ablehnung seiner Thesen ist einhellig. Über alle Parteigrenzen hinweg, mit seltener Deutlichkeit distanziert sich selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel von dem Urheber und fordert indirekt die Bundesbank zu Konsequenzen auf. Und auch seine eigene Partei, die SPD, geht auf Distanz zu ihm und will ihn loswerden.
Ein Buch, das Ergebnis jahrzehntelangen Nachdenkens ist
Und Sarrazin? Der sitzt ruhig, gelassen und in sich ruhend im Zentrum des Hurrikans und will die Aufregung, die er ausgelöst hat, nicht verstehen. "Wenn man so lange dem Staate dient, bleibt es nicht aus, dass man ihn liebt - und das Staatsvolk auch", sagt er beinahe pathetisch auf die selbst gestellte Frage, warum er dieses Buch geschrieben habe, das am Montag erschienen ist und sofort in den Bestsellerlisten Platz eins erobert hat. Wer die Geschichte kenne, wisse, "dass der Lauf der Welt stärker von Zufall, Dummheit und Opportunismus geprägt ist als von Weisheit und Voraussicht". Dem will er, der zeitlebens "den Zusammenhang und die Einbindung ins größere Ganze" gesucht habe, mit Fakten, Zahlen, Statistiken und Analysen entgegenwirken. Das Buch, sagt er, sei "Ergebnis jahrzehntelangen Nachdenkens".
Das "Goldene Zeitalter" Deutschlands sei vorbei
Sein Befund ist klar und eindeutig: Das "Goldene Zeitalter" Deutschlands, das im vergangenen Jahrhundert erst zum Wirtschaftswunder und dann zum Wohlstand für alle geführt hat, ist vorbei, Deutschland steht "an einer Zeitenwende, deren Ausmaß und Charakter vielen immer noch nicht klar ist". Wegen des seit 1965 herrschenden Geburtenrückgangs werde jede Generation um ein Drittel kleiner als die vorhergehende. "Das hat in nur 45 Jahren stärkere demografische Verwerfungen mit sich gebracht als alle Kriege der letzten 200 Jahre zusammen", so der promovierte Volkswirt. Während die deutsche Bevölkerung schrumpfe, wachse die Zahl der Angehörigen aus sozial schwachen, bildungsfernen, muslimischen Migrantenfamilien - und zwar aus rein ökonomischen Gründen, für Sarrazin ein Grundfehler des deutschen Sozialstaats. "Die Grundsicherung in Deutschland bedeutet für Migranten, die beispielsweise aus der östlichen Türkei oder aus dem Libanon kommen, auch ohne Arbeit ein Familieneinkommen, das ein realistisch erzielbares Arbeitseinkommen in den Herkunftsländern weit in den Schatten stellt." Das Verhalten dieser Familien sei zwar nachvollziehbar, führe aber dazu, dass die ökonomische wie gesellschaftliche Bilanz der Migration für Deutschland "eindeutig negativ" ist. Sarrazins Fazit: "Solange sich die kulturelle Einstellung der Zugewanderten nicht grundlegend ändert, schafft die Einwanderung aus diesen Ländern zusätzliche wirtschaftliche und soziale Probleme, anstatt die Lasten der demografischen Verschiebungen abzumildern."
In den klassischen Einwandererländern USA, Kanada, Australien oder Neuseeland mit ihren strikten Zuwanderungsbegrenzungen hingegen falle die ökonomische Bilanz positiv aus. Hätte die Bundesrepublik schon vor Jahrzehnten ähnliche Barrieren aufgestellt, "dann wären 90 Prozent der heute in Deutschland lebenden muslimischen Migranten erst gar nicht nach Deutschland gekommen".
Für Sarrazin sind dies alles Wahrheiten, die allerdings niemand wage, so klar und deutlich auszusprechen. Dabei führt aus seiner Sicht das Verdrängen der Probleme dazu, dass die Lage nicht besser, sondern immer schlimmer werde. Darum will er auch nicht aus der SPD austreten, im Gegenteil: "Ich bin in einer Volkspartei und werde in dieser Volkspartei bleiben, weil diese Fragen in die Volkspartei hineingetragen werden müssen", sagt er.
Klein beigeben ist nicht
Und doch scheinen seine Tage in der SPD gezählt zu sein. Während er sein Buch der Presse vorstellt, spricht sich das SPD-Präsidium dafür aus, ein Parteiausschlussverfahren gegen Sarrazin einzuleiten. Er habe, so Parteichef Sigmar Gabriel, eine "rote Linie" überschritten und sich "außerhalb der SPD und ihren Werten" gestellt. Gleichzeitig erhöht die Bundesregierung den Druck auf die Bundesbank, sich von ihrem Vorstandsmitglied zu trennen. Der 65-Jährige kann das nicht verstehen. Er agiere weder parteipolitisch noch verletze er dienstliche Obliegenheiten, ansonsten gelte auch für ihn das Recht auf Meinungsfreiheit, betont er. Im Übrigen sollten sich seine Kritiker "erst mal hinsetzen und mein Buch lesen". Darin sei nichts zu finden, "was den Parteiausschluss rechtfertigt". Die Türkische Gemeinde in Deutschland hingegen begrüßt den Beschluss des SPD-Präsidiums. "Viele Deutsch-Türken haben diesen Schritt schon längst erwartet", sagt der Bundesvorsitzende Kenan Kolat, selber SPD-Mitglied. Gleichzeitig fordert er eine breite Diskussion über "den intellektuellen Rassismus in der Gesellschaft", den Sarrazin repräsentiere.
Klein beigeben, gar etwas zurücknehmen mag der derart Gescholtene nicht. Er sei "ein Gestaltungsoptimist", er glaube an die Kraft des öffentlichen Diskurses. Seine Kritiker lädt er ein, nach Fehlern, Unstimmigkeiten oder blinden Stellen zu suchen, in empirischer wie in logischer Hinsicht. Doch Sarrazin, selbst Nachfahre von Migranten, glaubt das Ergebnis schon zu kennen: "Das wird, so glaube ich, nicht leicht möglich sein." Martin Ferber
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