
Missbrauchen Lobbyisten die Corona-Krise für ihre Zwecke?

Plus Hilfspakete, Beschränkungen, Lockerungen: Im Blitztempo setzen Politiker Maßnahmen durch. Wo Lobbyisten ihre Chance wittern.

Mit Notsituationen kannte sich Winston Churchill aus. Weltkriege, wirtschaftliche Zusammenbrüche, innenpolitische Querelen: Sie alle prägten die Karriere des wohl schillerndsten britischen Politikers des 20. Jahrhunderts und brachten ihn, so wird es nachgesagt, zum Schluss: „Never let a good crisis go to waste.“ (deutsch: „Verschwende niemals eine gute Krise.“) Wann eine Krise gut ist und wann nicht, darüber lässt sich sicher streiten. Aber doch können Krisen Potenziale entfalten, Freiräume schaffen – und damit Nutznießer auf den Plan rufen. Ein Vorwurf, mit dem mehrere Lobbyorganistionen konfrontiert werden. Ihre Aufgabe ist es, die Interessen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verbänden oder Vereinen in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Instrumentalisieren manche von ihnen die Pandemie, um Projekte durchzusetzen, die mit der Krise nichts zu tun haben?
Es gilt die Regel: Krisenzeiten sind Hochzeiten der Exekutive
Krisenzeiten sind Zeiten der Exekutive. Gerade nationale Regierungen müssen Handlungsfähigkeit beweisen und weitreichende Maßnahmen im Blitztempo durchsetzen. Das macht Entscheidungsprozesse anfälliger für Einflüsse von außen. Es geht um Milliardenbeträge – staatliche Regulierungen stehen auf dem Prüfstand. Entsprechend deutlich artikulieren Branchen, Verbände und Industrien, was aus ihrer Sicht jetzt notwendig ist. „Aktuell wird politisch Vieles neujustiert, gerade im Bereich der Regulierungen“, sagt Rudolf Speth, Politikwissenschaftler und Lobbyforscher an der Freien Universität Berlin. „Lobbyisten versuchen, diese Situation für sich zu nutzen.“
Das zähe Ringen um eine schärfere Düngeverordnung
Ende März schrieb etwa die Agrar-Organisation „Land schafft Verbindung“ (LsV) einen offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das Anliegen: „eine gute Lösung in Bezug auf die Düngeverordnung.“ Seit Jahren ist die geplante Verordnung vielen Landwirten wegen strengerer Vorschriften ein Dorn im Auge. Und so schrieb „Land schafft Verbindung“ in dem offenen Brief wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung im Bundesrat: „Eine negative politische Entscheidung würde die deutschen Bauern in ihren Entscheidungen hemmen und ihnen jegliche Motivation nehmen – viele Betriebe würden die Produktion von Nahrungsmitteln einstellen müssen.“ Kritiker sahen darin die Androhung eines Produktionsstopps – und trotz schnellen LsV-Dementis den Versuch, die Corona-Krise in der Debatte um eine unliebsame Vorschrift zu instrumentalisieren. Letztlich votierte der Bundesrat für die Verordnung, die nun ab 2021 in Kraft treten soll.
Der Grüne Europaabgeordnete Sven Giegold sieht ein „konzertiertes“ Vorgehen
„Es gab in den Tagen vor der Entscheidung auf sämtlichen Wegen einen massiven Lobbysturm gegen die Verordnung. Und das meistens mit Verweis auf Corona“, sagt der Europa-Abgeordneter Sven Giegold (Grüne) im Gespräch mit unserer Redaktion. Dieses Vorgehen sei „absolut konzertiert“ gewesen. „Auf allen politischen Ebenen versuchen Lobbyisten momentan, ihre Anliegen in Verbindung mit der Corona-Krise zu bringen. Alleine schon, um Gehör zu finden.“ Als bislang „verwirrtesten Vorschlag“ habe er die Forderung empfunden, verschiedene Luftreinhaltungsmaßnahmen zurückzunehmen.
Ebenfalls in einem offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen berichteten europäischen Automobil-Dachverbände von den Problemen, unter denen die ganze Branche – Hersteller, Zulieferer, Händler und Reifenproduzenten – momentan leiden würde. Die Krise bringe die Pläne durcheinander, mit denen sich die Automobilindustrie auf bestehende und künftige EU-Gesetze vorbereite. „Wir glauben daher, dass eine gewisse Anpassung des Zeitplans für diese Gesetze notwendig wäre.“ Welche Gesetze damit gemeint sind, wird nicht präzisiert. Giegold sieht darin aber „eine von vielen Aktionen, mit denen Bemühungen um eine CO2-Reduktion konterkariert werden sollen. Da kommt Corona gerade recht.“ Im März stellte von der Leyen ein Gesetz vor, mit dem die EU bis 2050 „klimaneutral“ werden soll. Teil der Maßnahmen: eine noch drastischere Reduktion der CO2-Emissionen bis 2030 als ohnehin vorgesehen. „Die EU-Kommission sollte überlegen, ob eine solche Verschärfung der CO2-Vorgaben derzeit angebracht ist. Da setzen wir ein Fragezeichen“, sagt Eckehart Rotter, Sprecher des Verbands der Automobilindustrie (VDA) gegenüber unserer Redaktion. „Brüssel kann nicht so tun, als ob wir kein Corona hätten. Ein ‚Draufsatteln’ passt jetzt wirklich nicht in die Landschaft.“ Zu den nationalen Klimaschutzzielen stehe die deutsche Automobilindustrie aber „klipp und klar“, sagt Rotter. Als unverständlich erachte er wiederum ein Anliegen, das die Deutsche Umwelthilfe Anfang April vorgebracht hatte: Die Organisation forderte ein temporäres Tempolimit während der Corona-Krise, um Krankenhäuser, Ärzte und Rettungsdienste zu entlasten. „Das ist aus unserer Sicht eine Symboldebatte, die vorgeschoben wird“, sagt VDA-Sprecher Rotter.

Im Blickpunkt ist traditionell auch die Pharma-Industrie
Nicht immer geht es bei Lobbyaktivitäten um das Spannungsgeflecht zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen. Timo Lange vom Verein Lobbycontrol beobachtet vor dem Hintergrund der Corona-Krise auch die Pharma-Industrie. „Sie spielt aktuell natürlich eine besondere Rolle. Deshalb ist es wichtig genau hinzuschauen, wie dort Fördergelder verteilt werden. Nützen sie wirklich der Allgemeinheit oder dienen sie nur der Profitsteigerung der Unternehmen?“ Für „fragwürdig“ halte er das Vorgehen der arbeitgebernahen Lobbyorganisation „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Sie nahm die Corona-Krise zum Anlass, erneut die komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlags zu fordern – also auch für die 3,5 Prozent der Steuerzahler, die am meisten verdienen. Diesen Schritt zu erwägen, hatte jüngst auch die Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfohlen.
Wie erfolgreich Interessensvertretung abläuft, hängt laut Lobbyforscher Speth aktuell mehr als zuvor davon ab, wie wichtig die jeweilige Lobby eingeschätzt wird – und wie gut diese vernetzt ist. „Die Möglichkeiten, Politiker zu erreichen, sind jetzt begrenzt. Es gibt Lobbys, die dadurch momentan kaum Interessen artikulieren können“, sagt Speth. „Wenn man Interessen an Politiker herantragen will, muss man sich davor schon ein breites und intensives Netzwerk aufgebaut haben.“ Auf ein solches kann die Automobilindustrie offenbar zählen. VDA-Sprecher Rotter sagt: „Wir sind in engem Austausch mit der Politik und kennen unsere Ansprechpartner.“ Der Kontakt sei insbesondere zur Bundesregierung derzeit noch stärker als sonst. „Der Austausch ist eng, intensiv und vertrauensvoll. Alle ziehen an einem Strang – und in eine Richtung.“
In der Krise geraten insbesondere die Nationalstaaten bei Lobbyisten in den Blickpunkt
Dass sich die Aktivitäten der Interessenvertreter derzeit besonders auf Nationalstaaten und dort jeweils auf Regierungen konzentrieren, bestätigt Lobbyforscher Rudolf Speth. Die Anliegen der Wirtschaft erreichen aber auch weitere Volksvertreter – nur in anderer Form. Angelika Niebler (CSU), Europa-Abgeordnete und Präsidentin des Wirtschaftsbeirats der Union, sagt: „Mich erreichen mehr individuelle Schreiben von einzelnen Unternehmen, die um Hilfe bitten. Ich bin noch stärker zu einer Vermittlungsstelle für meinen Wahlkreis geworden.“ Klassisches politisches Lobbying sei für die meisten Abgeordneten – auch auf Bundes- und Landesebene – „beinahe auf Null heruntergefahren“. Trotzdem sei es wichtig, in der Krise auch Kontakt zur Wirtschaft zu halten. „Wenn wir dieses Feuer löschen wollen, dann brauchen wir alle – auch die Unternehmen.“
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