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Interview: Bischof Wilmer: „Missbrauchsskandal geht ins Herz der Kirche“

Interview

Bischof Wilmer: „Missbrauchsskandal geht ins Herz der Kirche“

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    Für Bischof Heiner Wilmer ist der Missbrauchsskandal „vergleichbar mit dem heftigen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755“. Er bedeutet eine Erschütterung für die katholische Kirche.
    Für Bischof Heiner Wilmer ist der Missbrauchsskandal „vergleichbar mit dem heftigen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755“. Er bedeutet eine Erschütterung für die katholische Kirche. Foto: C. Gossmann

    Heiner Wilmer war Generaloberer der Herz-Jesu-Priester in Rom, einer weltweit aktiven Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche. Dann wurde er vor etwas mehr als einem Jahr überraschend Bischof von Hildesheim – und bundesweit bekannt für seine deutlichen Worte. Während des Gesprächs rutscht dem Niedersachsen manchmal ein „Du“ heraus – wohl eine Angewohnheit aus seiner Zeit als Lehrer.

    Herr Wilmer, stimmt es, dass Sie Papst Franziskus angerufen hat, um Ihnen mitzuteilen, dass Sie zum Bischof ernannt werden?

    Heiner Wilmer: Ja, Papst Franziskus hat mich angerufen, und später war ich bei ihm in Rom und habe ihn gefragt, was ich in Hildesheim soll. Er sagte mir: „Ich möchte, dass du ein Bischof bist, der bei den jungen Menschen ist. Der kein Verwalter ist, sondern ein echter Seelsorger; der erreichbar und zugänglich ist, auch für ältere Menschen.“ Ich hörte heraus: Sei nah an den Menschen!

    Sie haben sich Ihr Bistum dann systematisch erschlossen. Sie waren mit jungen Leuten unterwegs, hatten die Aktion „Dialog mit dem Bischof“...

    Wilmer: Ich hatte dabei immer zwei Fragen: Wohin soll ich das Bistum leiten? Und: Wie soll ich persönlich leben? Viele haben mir ihr Herz ausgeschüttet. Sie erzählten mir von ihren Ängsten. Und von ihrem Ärger mit der Kirche mit Blick auf die wiederverheirateten Geschiedenen, die vom Empfang der Beichte und Eucharistie ausgeschlossen sind. Sie erzählten mir von ihrem Ärger mit Blick auf den Umgang der Kirche mit homosexuellen Partnerschaften. Ihr wichtigstes Anliegen aber war die Rolle der Frau in der Kirche.

    Wie sind Sie damit umgegangen?

    Wilmer: Das alles hat mich bewegt und berührt. Ich habe mich gefragt: Wo begegnen wir Menschen gerade in gescheiterten Situationen? Denn trotz aller Digitalisierung: Die reale Welt ist unschlagbar. Wir benötigen Räume und Zeit in unserem Bistum zum Zuhören.

    Macht es Ihnen Spaß, Bischof zu sein?

    Wilmer: Ich bin guter Dinge. Ich habe einen sehr vollen Terminkalender und natürlich auch viel Arbeit. Aber hier im Bischofshaus lachen wir auch sehr viel. Humor ist ein Schlüssel zum Gelingen. Die Menschen bringen mir großes Vertrauen entgegen. Sie wollen etwas, sie haben eine Sehnsucht.

    Hätten Sie erwartet, dass der Missbrauchsskandal einen Gutteil Ihrer Arbeitszeit beanspruchen wird?

    Wilmer: Ich habe mich sicher in den ersten sechs, sieben Monaten fünf bis sechs Tage in der Woche mit dem Thema beschäftigt. Wir haben inzwischen sehr viele Empfehlungen aus einem Gutachten des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung umgesetzt. Es gibt jetzt zum Beispiel einen Kreis von nur noch externen Experten als Ansprechpersonen für Betroffene. Und dieser Kreis wird nochmals von externen Beratern unterstützt.

    Einer Ihrer Vorgänger, Bischof Heinrich Maria Janssen, wurde beschuldigt, er habe unter anderem ein Heimkind Ende der 50er Jahre aufgefordert, sich vor ihm auszuziehen. Wann rechnen Sie mit Ergebnissen einer unabhängigen Untersuchung zu diesem und weiteren Vorwürfen?

    Wilmer: Wir haben auch hier alle Akten nach außen gegeben. Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass hier irgendetwas zurückgehalten wird. Ich rechne damit, dass im Sommer oder Herbst nächsten Jahres Ergebnisse vorliegen. Ich mische mich als Bischof überhaupt nicht ein. Die Anschuldigungen gegen Bischof Janssen sind erschütternd. Ich musste ihnen nachgehen.

    Wird sich die katholische Kirche noch zu Ihren Lebzeiten, Sie sind 58 Jahre alt, vom Missbrauchsskandal in den eigenen Reihen erholen können?

    Wilmer: Der Missbrauchsskandal ist durchaus vergleichbar mit dem heftigen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Das Thema der sexualisierten Gewalt erschüttert das Gebälk, es geht direkt ins Herz der Kirche. Ich gehe nicht davon aus, dass das Thema innerhalb weniger Jahre ad acta gelegt werden kann. Ich glaube, die ganze Komplexität des Missbrauchsskandals haben wir immer noch nicht begriffen.

    Wie meinen Sie das?

    Wilmer: Dazu gehören auch die Fragen: Wie denken wir Gott? Wie denken wir die Kirche? Wir haben immer noch ein altes Kirchenbild, nämlich das der „perfekten Gesellschaft“ – obwohl das Zweite Vatikanische Konzil dieses Bild schon korrigiert hat. Die Kirche ist dem Konzil zufolge der Leib Christi, der liebenswert ist, aber auch anfällig. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen noch immer völlig verinnerlicht haben, die Kirche sei vollkommen und man darf nicht an ihrem Image kratzen. Dies hat dazu beigetragen, dass bestimmte Dinge nicht sein durften und man sie unter den Tisch gekehrt hat: Bloß nicht darüber reden, um nicht das Image der Kirche zu beschädigen!

    Dann haben Sie ja in ein Wespennest gestochen mit Ihrem Satz: „Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.“

    Wilmer: Es gab viel Zustimmung, aber auch Entsetzen. Niemand ist bei dieser Aussage neutral geblieben. Ich wollte damit sagen: Der Missbrauch der Macht ist so alt wie die Kirche selbst. Das haben wir schon im Evangelium. Die Jünger stritten darüber, wer der erste unter ihnen sei. Die katholische Kirche ist heilig, aber auch eine menschliche Institution. Das ist gute, alte Theologie.

    Sollten sich die Priester also nichts darauf einbilden, geweiht zu sein?

    Wilmer: Der geweihte Priester ist und bleibt auch ein ganz normaler Mensch, mit all seinen Sehnsüchten und Hoffnungen, aber auch mit aller Erbärmlichkeit. Wir sind gut beraten, das Wort Jesu zu beherzigen: Wachet und betet! Seid selbstkritisch!

    Die deutschen Bischöfe beraten gerade darüber, Missbrauchsopfern bis zu sechsstellige Entschädigungssummen zu zahlen. Ende September hieß es, eine Entscheidung über Entschädigungsmodell und -höhe falle in „einigen Monaten“. Inzwischen heißt es, es sei komplex und man brauche Zeit…

    Wilmer: Es stimmt, es ist deutlich komplexer, als es vielleicht in den Medien herüberkam. Der Begriff Entschädigung ist ja nicht ganz ohne. Manchen Betroffenen tut er auch sehr weh, manche sind entsetzt – weil sie sagen: „Der Schaden, der in meinem Leben angerichtet wurde, kann nie gut gemacht werden, auch nicht durch Geld. Und ich möchte nicht, dass sich die Kirche freikauft.“ Natürlich muss darüber gesprochen werden, wie wir als Kirche ihnen helfen können. Wir Bischöfe sind an dem Thema dran.

    Wann aber wird es eine Entscheidung der Bischöfe über Entschädigungszahlungen an Missbrauchsopfer geben? In der Diskussion sind ja Summen bis hin zu 400000 Euro pro Opfer.

    Wilmer: Dazu vermag ich nichts zu sagen. Mir ist aber wichtig, dass die katholische Kirche keinen Alleingang unternimmt. Es wäre für mich fatal, würde sie wieder in diese alte Falle tappen. Wir brauchen eine echte Kommunikation mit den anderen großen Institutionen, allen voran mit den evangelischen. Sowie zudem mit den katholischen Ordensgemeinschaften und mit dem Staat. Wir müssen uns auch mit dem Justizministerium abstimmen, wie die Dinge zu regeln sind.

    Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz, erklärte kürzlich: Die Kirchenmitglieder seien als Solidargemeinschaft in der Pflicht, Entschädigungen müssten aus Kirchensteuermitteln aufgebracht werden. Sind Sie ebenfalls dafür?

    Wilmer: Die Frage, aus welchen Mitteln wir zahlen, muss gut bedacht werden, weil letztlich alle Mittel vom Volk Gottes stammen. Wir brauchen darüber eine ehrliche Aussprache. Dann haben wir bestimmte Bistümer, die finanziell schwach sind. Hier müssten sich finanziell stärkere Bistümer mit ihnen solidarisch erklären. Und übrigens auch mit den Ordensgemeinschaften, die es teilweise schon gar nicht mehr gibt oder die bitterarm sind.

    Sollten Entschädigungen aus der Kirchensteuer gezahlt werden, könnte es eine Austrittswelle geben. Viele werden nicht verstehen, dass sie für die Vergehen Geistlicher einstehen sollen.

    Wilmer: Ich möchte darüber nicht spekulieren. Ich glaube schon, dass die Gläubigen grundsätzlich der Auffassung sind, dass wir eine Solidargemeinschaft sind. Wir sollten das nicht unterschätzen.

    Am 1. Advent hat der „Synodale Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland begonnen. Zwei Jahre lang werden unter anderem Bischöfe und engagierte Katholiken über Antworten auf den Missbrauchsskandal beraten. Kardinal Reinhard Marx sprach von einem „Weg der Umkehr und der Erneuerung“. Worin werden Umkehr und Erneuerung bestehen?

    Wilmer: Der Synodale Weg ist begonnen worden wegen der erschütternden Ergebnisse der sogenannten MHG-Studie, die im letzten Herbst veröffentlicht wurde. Das darf man nicht vergessen.

    Der Studie zufolge sollen 1670 Geistliche zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 Kinder und Jugendliche missbraucht haben.

    Wilmer: Ja, und nun zu Ihrer Frage: Die Kirche bedarf immer der Erneuerung und Reform. Auch dieser Gedanke ist so alt wie die Kirche. Was können wir tun, damit sich sexualisierte Gewalt nie wiederholt?

    Was?

    Wilmer: Wir brauchen in der Kirche Gewaltenteilung und eine Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit und dem Staat. Für mich als Bischof von Hildesheim ist Partizipation, also die Beteiligung aller Gläubigen, ein Schlüssel.

    Wie genau sollen sie beteiligt werden?

    Wilmer: Wir wollen etwa deutlich mehr Frauen in Leitungspositionen, und wir haben hier auch schon damit angefangen. Vor wenigen Tagen haben wir erstmals eine Frau zur Finanzdirektorin berufen. Finanzdirektor war in der Geschichte des Bistums Hildesheim 1200 Jahre lang immer ein Mann. Rein hierarchisch gesehen kommt sie gleich nach dem Bischof und dem Generalvikar. Früher war der engste Mitarbeiter des Bischofs der bischöfliche Sekretär. Ich habe eine engste Mitarbeiterin, mit ihr berate ich Strategiefragen. Wir brauchen das Zusammenspiel von männlicher und weiblicher Perspektive. Wir stellen auch zunehmend die Leitung der Pfarrgemeinden um. Wir wollen in Teams unterwegs sein. Es ist nicht mehr nur der Pfarrer, der alles entscheidet.

    Und was kann nun beim Synodalen Weg herauskommen? Ihm mangele es an Verbindlichkeit, wurde kritisiert...

    Wilmer: Der Synodale Weg wird spannend. Interessant ist doch, dass ganz unterschiedliche Gruppen innerhalb der Kirche zusammenkommen. Es wird sicherlich nicht leicht werden. Aber ich bin zuversichtlich, dass die katholische Kirche am Ende eine andere sein wird als jetzt. Die Kirche der Zukunft wird deutlich partizipativer und weiblicher sein.

    Zur Person: Heiner Wilmer, 58, wurde im September 2018 zum Bischof von Hildesheim geweiht. Der Bauernsohn aus dem Emsland trat bereits mit 19 Jahren in die Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester ein. Er arbeitete als Lehrer, unter anderem in New York, und war Schulleiter.

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