Die Atomdebatte beginnt von vorne
Die Bundeskanzlerin will eine rasche Sicherheitsüberprüfung. Der Umweltminister schließt selbst den vorzeitigen Ausstieg nicht mehr aus und kommt der Opposition entgegen. Neuer Zündstoff für den Wahlkampf.
„Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt.“ Angela Merkel redet nicht lange um das brisante Thema herum. Wenn es in einem so hoch entwickelten Land zu einer solchen Katastrophe komme, sagt die Kanzlerin, dann dürfe auch Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Die 17 Reaktoren in der Bundesrepublik sollen deshalb einem großen Sicherheitscheck unterzogen werden, allen voran ihre Kühlungssysteme. Über einen Kurswechsel in der Energiepolitik oder einen Verzicht auf die gerade erst beschlossene Verlängerung der Laufzeiten um zwölf Jahre aber will die Regierungschefin noch nicht reden, zumindest nicht öffentlich. Dafür, findet sie, sei jetzt nicht die Zeit, so kurz nach dem Unglück.
Deutlicher wird ihr Umweltminister: Norbert Röttgen (CDU) schließt offenbar nichts mehr aus, weder einen schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie noch das zügige Abschalten älterer Reaktoren. Ihm gehe es längst nicht nur um die Laufzeiten, beteuert er, sondern um die Beherrschbarkeit des Restrisikos: Nun sei genau das passiert, von dem es immer geheißen habe, es könne nicht passieren. „Das“, sagt Röttgen, „ist etwas sehr Veränderndes.“ Die berühmte Brücke, die die Kernenergie noch ins Zeitalter der erneuerbaren Energien bauen sollte, muss seiner Ansicht nach deutlich kürzer werden. Fukushima habe gezeigt, „dass wir eine andere Energieversorgung brauchen“.
25 Jahre nach Tschernobyl droht Deutschland aus Japan zwar keine unmittelbare Gefahr – die Diskussion über die Zukunft der Kernkraft allerdings hat an diesem Wochenende auf besonders schaurige Art neue Nahrung erhalten. Auch in der Bundesrepublik, warnt Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin, sei kein Meiler gegen das Risiko einer Kernschmelze gefeit, zum Beispiel nach einem Flugzeugabsturz oder einem Terroranschlag. Parteichef Cem Özdemir fordert einen Atomgipfel in Berlin, der SPD-Umweltexperte Matthias Miersch zumindest die Rücknahme der Laufzeitverlängerung. Nachdem mehrere Bundesländer ohnehin vor dem Verfassungsgericht geklagt hätten, meint er, müsse die Regierung gar nicht mehr auf das Urteil aus Karlsruhe warten – obwohl es darin nicht um die Gefahren der Kernkraft geht, sondern alleine um die Frage, ob die Entscheidung über die Laufzeit am Bundesrat vorbei getroffen werden darf. Selbst der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, sonst ein eher besonnener Typ, widersteht der Versuchung, das Thema für seinen Wahlkampf zu nutzen, am Samstag nur kurz: „Ich will nicht mit einer so schlimmen Katastrophe Politik machen“, sagt der frühere SPD-Chef. „Aber gerade unter dem Eindruck eines solchen Risikos wünschen sich wohl alle vernünftigen Menschen dringend, dass es beim Ausstieg aus der nicht beherrschbaren Kernkraft bleibt.“
Am Samstagabend hat die Kanzlerin Außenminister Guido Westerwelle (FDP), Röttgen, den neuen Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) einbestellt, um über die Konsequenzen der Katastrophe für Deutschland zu diskutieren. „Ein Stück Demut und Ehrfurcht vor der Natur“ habe sie, sagt sie anschließend. Nach menschlichem Ermessen allerdings werde die Bundesrepublik vom Reaktorunglück in Japan nicht betroffen sein: „Wir sind zu weit davon entfernt.“
Andererseits aber weiß Angela Merkel nur allzu gut, dass das Wahljahr 2011 für eine Koalition, die sich so eindeutig zur Atomenergie bekannt hat wie ihre, nun nicht einfacher wird. Schon der Streit um die längeren Laufzeiten hat die Grünen auf Umfragewerte weit jenseits der 20 Prozent gehievt, in Baden-Württemberg demonstrieren am Samstag Zehntausende gegen die Energiepolitik von Union und FDP, und auch die Kritiker aus den eigenen Reihen melden sich immer lauter zu Wort. „Der Druck wird steigen, Kernkraftwerke älterer Bauart planmäßig vom Netz zu nehmen“, ahnt der CSU-Mann Josef Göppel, einer der fünf Unionsabgeordneten, die im Herbst gegen die Laufzeitverlängerung gestimmt haben. „Auch in Deutschland wird es der Atomindustrie gestattet, mit unseren Lebens- und Zukunftschancen russisch Roulette zu spielen“, klagt Petra Pauly, die Sprecherin der CDAK, der Christdemokraten gegen Atomkraft. Dazu kommen möglicherweise hohe Folgekosten für den Steuerzahler, falls die Kosten für die Nachrüstung von Kraftwerken die mit den Energieversorgern vereinbarten 500 Millionen Euro pro Meiler übersteigen.
Selbst die Kanzlerin, die von sich sagt, sie halte die friedliche Nutzung der Kernkraft nach wie vor für vertretbar und verantwortbar, kann sich nicht ganz frei von den dramatischen Bildern und Nachrichten aus Japan machen. „Ich finde, an einem solchen Tag darf man nicht einfach sagen, unsere Kernkraftwerke sind sicher“, sagt sie. Natürlich müsse auch die Bundesregierung sich jetzt fragen, was sie aus einem solchen Ereignis lerne. An ihrem ganz persönlichen Urteil über die deutschen Reaktoren aber ändert das noch nichts: „Sie sind sicher.“
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