Es ist der zweite Tag des Labour-Parteitags im Oktober 2023 in Liverpool. Angela Rayner steht auf der Rednerliste, doch ihr Stuhl bleibt zunächst leer. Als sie schließlich den Saal betritt, drehen sich die Anwesenden nach ihr um, zücken ihre Smartphones. Rayner sticht mit ihren langen roten Haaren und ihrem Manchester-Akzent, bei dem Vokale besonders betont werden, hervor.
In der englische Küstenstadt spricht sie über das, was sie im elitären Westminster so besonders macht: darüber, dass sie in schwierigen sozialen Verhältnissen aufgewachsen ist und wie sie es trotzdem ins Parlament geschafft hat. Seit dem Wahlsieg der Labour-Partei ist sie stellvertretende Regierungschefin und Wohnungsministerin. Mit ihrer direkten Art bildet sie einen Gegenpol zum stets beherrscht wirkenden Regierungschef Keir Starmer.
Tatsächlich hat Rayner allen Grund, stolz auf ihren Werdegang zu sein. Aufgewachsen ist sie in einer Sozialsiedlung in Stockport, einer Stadt im Großraum Manchester, die Friedrich Engels Mitte des 19. Jahrhunderts als eines der „finstersten und räucherigsten Nester” Englands bezeichnete. Ihre psychisch kranke Mutter servierte ihr einmal „Rasierschaum als Sahne“, weil sie nicht lesen gelernt hatte. „Ich bin größtenteils bei meiner Großmutter aufgewachsen, die drei Jobs hatte, um das Essen auf den Tisch zu bringen“, sagt Rayner. Mit 16 wurde sie schwanger. Als alleinerziehende Mutter arbeitete sie nach einer Ausbildung als Sozialarbeiterin. Über die Gewerkschaften führte ihr Weg in die Politik. 2015 wurde sie als Abgeordnete für den Wahlkreis Ashton-under-Lyne bei Manchester ins Parlament gewählt. Als Starmer 2020 Parteichef wurde, wählte die Partei die dreifache Mutter zu seiner Stellvertreterin. Ihr Sohn wurde 2017 Vater und Rayner damit im Alter von 37 Jahren Großmutter. Sie selbst bezeichnet sich deshalb in einer Wortkombination aus Großmutter und Angela als stolze „Grangela”.
„Sie ist eine Kämpferin“, sagt die Journalistin Katy Balls. „Sie kommt aus der Gewerkschaft, hat sich ihren Platz hart erarbeitet und weiß, dass sie eine einzigartige Machtbasis in der Partei hat.“ Die 44-Jährige „füllt die Lücken für Keir“, sagt Tom Baldwin, der eine Biografie über den Labour-Chef geschrieben hat. Rayner trägt ihr Herz auf der Zunge, wirkt zugänglicher und wärmer als der 61-Jährige. Doch könnten ihre Offenheit und ihr politischer Hintergrund auch zur Gefahr für Starmer werden?
Erst im Frühjahr hing Rayners Karriere für einen Moment am seidenen Faden. Es ging um die Frage, ob sie Steuerschulden übersehen oder bewusst nicht bezahlt hatte und wo sie während ihrer Ehe wohnte. Rayner kündigte an, im Falle eines Schuldspruches zurückzutreten, betonte jedoch, nichts Falsches getan zu haben. Kurz vor der Wahl wurden die Ermittlungen eingestellt. Aus den Reihen der Wirtschaft wird außerdem immer wieder die Frage gestellt, ob Rayner nicht zu links ist. Sie selbst nennt sich eine „weiche Linke”, die etwa gegen Kriminalität hart vorgehen wolle, weil sie aus Erfahrung wisse, wie wichtig es sei, sich sicher zu fühlen.
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