„Die Uhr tickt“, titelte vor wenigen Tagen die britische Boulevardzeitung The Sun. Der Grund für den Versuch eines Weckrufes sind neue Erkenntnisse zur Lebenszeit der Briten. Eine aktuelle Studie, erschienen im Fachmagazin The Lancet Public Health, zeigt: Die Lebenserwartung steigt in Europa immer langsamer, doch nirgendwo ist die Entwicklung so auffällig wie in England. Während sie zwischen 1990 und 2011 noch jährlich um im Schnitt 0,25 Jahre wuchs, sank dieser Wert von 2011 bis 2019 auf magere 0,07 Jahre. Ein europäischer Spitzenplatz, den der Landesteil wohl lieber nicht gewonnen hätte. Auch andere Zahlen können als Mahnung verstanden werden: Die Lebenserwartung in Großbritannien lag den Vereinten Nationen zufolge 2020 bei 80,43 Jahren und in Deutschland bei 81,15; in Japan dagegen bei 84,69 Jahren. Die Wartelisten im überbelasteten nationalen Gesundheitssystem NHS, so betonen Experten, spielen möglicherweise eine Rolle, der Hauptgrund ist jedoch wohl ein anderer.
Sarah Price, Direktorin für öffentliche Gesundheit des NHS England, spricht von einer unheilvollen Dreierkombination: „Schlechte Ernährung, Bewegungsmangel und Adipositas.” Anders ausgedrückt: Zu viel Fast Food, zu wenig Sport und ein wachsender Bauchumfang belasten das Leben der Briten oder verkürzen es durch Folgeerkrankungen gar. In Ebbw Vale, einer Stadt in Südwales, bringen statistisch vier von fünf Menschen zu viele Kilos auf die Waage oder sind adipös, also krankhaft fettleibig. Ein Spaziergang durch das Stadtzentrum gibt einen Hinweis auf die Gründe: Dutzende Fast-Food-Läden reihen sich aneinander, Brathähnchen, Kebab und fettige Pommes gibt es an jeder Ecke. Viele Menschen bestellen ihr Essen täglich dort. Ein Trend, der sich durch die Covid-Pandemie weiter verschärft hat.
Fertiggerichte und Softdrinks bestimmen den Speiseplan
Der Ort ist kein Einzelfall – ganz Großbritannien hat ein Gewichtsproblem. Laut dem National Child Measurement Programme (NCMP), einem Kinder-Gesundheitsprogramm der britischen Regierung, ist fast jedes vierte Kind in England übergewichtig, wenn es die Grundschule verlässt. Fertiggerichte, Chips und Softdrinks bestimmen oft den Speiseplan der Schüler. Bei den Erwachsenen sieht es nicht besser aus: Schätzungen zufolge sind rund 25 Prozent sogar krankhaft fettleibig, weitere 38 Prozent übergewichtig. Adipositas ist mittlerweile eine der häufigsten vermeidbaren Ursachen für Krankheiten wie Diabetes, Herzleiden, Schlaganfälle und Krebs.
Eine bittere Wahrheit ist in Großbritannien: Wer arm ist, wird häufiger dick - und in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Einkommensschere weiter geöffnet. In den ärmeren Gegenden Englands liegt die Übergewichtsrate einer Erhebung des NHS zufolge um zwölf Prozentpunkte höher als in wohlhabenderen Regionen. Während gut situierte Familien in London Biokisten abonnieren und ihre Kinder in Sportvereine schicken, fehlen in strukturschwachen Städten oft gesunde Alternativen und Sportangebote. Wer wenig Geld hat, greift eher zu Fertiggerichten.
Ersetzt die Abnehmspritze den gesunden Lebensstil?
Da Ernährungskampagnen und Sportinitiativen bisher wenig ausrichten konnten, setzt die britische Labour-Regierung unter Keir Starmer nun zunehmend auf medizinische Lösungen. Abnehmspritzen wie Mounjaro und Wegovy sollen das Problem lösen – und dabei nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Wirtschaft entlasten, da so mehr Menschen wieder arbeiten können und zudem gesünder sind, so die Hoffnung. Tatsächlich zeigen die Medikamente Wirkung: Zehntausende Briten nehmen sie bereits und viele verlieren im Verlauf von eineinhalb Jahren fast ein Viertel ihres Gewichts. Der NHS plant, Mounjaro für stark übergewichtige Patienten verfügbar zu machen; Wegovy wird bereits in spezialisierten Kliniken angeboten. Für den privaten Markt gelten sogar niedrige Schwellenwerte bezüglich des Body-Mass-Index, sodass theoretisch rund 15 Millionen Erwachsene in Großbritannien Anspruch auf die Spritzen hätten.
Studien heben die Vorteile des Medikaments hervor, darunter eine reduzierte Wahrscheinlichkeit, an Leberkrebs zu erkranken. Doch die Abnehmspritzen sind nicht ohne Risiken. Im November vergangenen Jahres erkrankte eine Krankenschwester in Schottland nach der Verabreichung von Mounjaro unter anderem an einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung und starb. Experten gehen davon aus, dass ihr Tod im Zusammenhang mit dem Medikament steht. „Die Entscheidung für eine Behandlung sollte gemeinsam mit dem Arzt getroffen werden – mit voller Berücksichtigung aller möglichen Auswirkungen”, warnte Alison Cave, leitende Sicherheitsbeauftragte der Arzneimittelbehörde MHRA. Trotzdem boomt der Markt. In sozialen Netzwerken teilen Influencer ihre Abspeck-Erfolge, und auch in Arztpraxen steigt die Nachfrage rasant. Manche Mediziner sprechen von einem „Paradigmenwechsel“ in der Behandlung von Fettleibigkeit. Andere fürchten eine bedenkliche Abkürzung: Statt Ernährung und Lebensstil zu ändern, könnte das Abnehmen mit Medikamenten zur neuen Normalität werden.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden