
Britische Politikexpertin: Westminster hat eine "besonders schlechte Phase"


Sex, Lügen, Videos: Immer mehr Affären ruinieren den Ruf des britischen Parlaments. Die englische Politikexpertin Hannah White erklärt die tieferen Ursachen.
Hannah White: Wir gehen hier zweifelsohne durch eine besonders schlechte Phase. Und es ist tatsächlich gar nicht so leicht zu erklären, woran das liegt. Denn eigentlich wurde in den letzten Jahren viel Aufwand betrieben, um die Situation zu verbessern. Neu eingerichtete Mechanismen im Parlament sollen es erleichtern, dass man Fehlverhalten von Abgeordneten melden kann. Als die Berichte zu dem pornoschauenden Tory Ende April aufkamen, hat der Fraktionsführer Chris Heaton-Harris außerdem umgehend Ermittlungen eingeleitet. Das wäre früher nicht passiert. Es kommen mehr Fälle ans Licht und es wird mehr darüber gesprochen.
White: Das liegt unter anderem an der Kultur in Westminster und an den Mechanismen, die dort wirken. Viele Abgeordnete, insbesondere Frauen, wundern sich zu Beginn ihrer Karriere darüber, welche Bedingungen sie im Parlament vorfinden, wie frauenfeindlich es beispielsweise ist. Doch um ihre Macht und ihren Einfluss nicht zu verlieren, finden sie sich damit ab. Schließlich sind es ganz bestimmte Personen, die sich für diesen Job entscheiden. Jeder hat ein Ego. Sie wollen Parlamentsabgeordnete bleiben und zudem ihre Wähler nicht enttäuschen. Es ist ein Handel, ein Kompromiss, den schließlich fast alle Abgeordneten eingehen. Damit bleibt dann alles beim Alten.
White: Genau. Das wurde auch im Zuge der Ermittlungen zu Neil Parish deutlich, dem Parlamentarier, der im Unterhaus Pornos geschaut hatte. Weibliche Kollegen hatten das Gefühl, dass, wenn sie offen über den Vorfall sprechen, nicht etwa die Person, die sich falsch verhalten hat, die Konsequenzen trägt, sondern sie selbst. Das ist sehr beunruhigend, denn es zeigt, dass die Machtmechanismen im Parlament zugunsten von Männern wirken, nicht von Frauen.
White: Neben der Kultur in Westminster selbst spielt auch die Auswahl der Abgeordneten eine Rolle. Denn in vielen Wahlkreisen wählen die Menschen ja meist eine bestimmte Partei, häufig entweder Labour oder die Tories. Damit bestimmen schließlich die Parteien vor Ort, wer der nächste Abgeordnete wird. Diese Wahl treffen dann oft alteingesessene Mitglieder. Und die haben dann unter Umständen eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie ein Parlamentsabgeordneter zu sein hat.
White: Der Premier geht einfach nicht mit gutem Beispiel voran. Partygate hat gezeigt, dass er davon ausgeht, dass bestimmte Regeln zwar für andere, nicht aber für ihn selbst gelten. Damit schaffte er eine Atmosphäre, in der manche Parlamentarier denken, sie könnten es ihm gleichtun. Überraschend kam das Fehlverhalten Johnsons aber nicht. Er hat schließlich schon vor seiner Zeit als Premier immer wieder gegen Regeln und Konventionen verstoßen – beruflich und privat.
White: Ja, im Jahr 2019 hatten es viele leid, dass der Brexit nicht vorangeht. Johnson traute man zu, dass er es schafft, weil er gegen Regeln spielt. Eine Eigenschaft, die ihm nun angesichts der Partygate-Affäre zum Verhängnis werden könnte. Außerdem mögen ihn viele Menschen, weil es für die nichts Schlimmeres gibt als abgehobene Politiker, die wirken, als seien sie Teil einer großen Maschine. Und so ist Boris Johnson eben nicht. Deshalb vergeben sie ihm auch, wenn er mal keine Ahnung hat.
White: Der Einfluss von Partygate auf die Wahlen war gemischt. Auf der einen Seite verlor die konservative Partei hunderte Sitze – insbesondere in London und Südengland. Auf der anderen Seite hielten sich die Tories auf wichtigen englischen Schlachtfeldern im Norden Englands und in Wales.
White: Das hängt davon ab, was für die konservativen Abgeordneten schwerer wiegt: die Tatsache, dass sie viele Wähler in Bezirken verloren haben, die einst in fester Hand der Tories waren, oder aber der Umstand, dass ihnen kürzlich konvertierte Wähler in Nordengland und Wales die Treue gehalten haben, trotz allem.
White: Starmer wollte nach den Lokalwahlen die Aufmerksamkeit auf die Agenda seiner Partei richten. Dieser Versuch ist jetzt angesichts von „Beergate“ gescheitert. Denn die konservative Partei behauptet jetzt, dass er offenbar genauso gegen die damals geltenden Gesetze verstoßen habe wie Boris Johnson. Labour bestreitet dies und verweist auf die laufenden Ermittlungen.
Zur Person: Die Politologin und Buchautorin arbeitet für die Londoner Denkfabrik „The Institute for Government“.
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