Herr Lindner, wir sitzen hier in Erlangen in ihrem Tourbus. Haben Sie schon mal ausrechnen lassen, wie viele Kilometer Sie in diesem Wahlkampf zurücklegen werden?
Lindner: Es werden viele Tausend Kilometer sein – zu Lande und in der Luft. Auf dem Wasser bin ich, soweit ich das übersehe, nicht unterwegs.
Sie setzen auf eine Koalition mit der Union. Wirkt das Trauma von 2013 nicht mehr nach? Damals ließ Angela Merkel Ihre Partei am langen Arm verhungern und die FDP flog aus dem Bundestag.
Lindner: Die FDP hatte nie ein Trauma. Wir sind die Partei der Eigenverantwortung, deshalb machen wir nicht andere für unser Schicksal verantwortlich. Frau Merkel war 2009 keine Reformpolitikerin mehr, 2017 war sie endgültig angegrünt. Die FDP ist eine eigenständige Partei, die andere Schwerpunkte und konsequent auf Freiheit setzt. Aber die Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik, mehr Konsequenz beim Stopp irregulärer Einwanderung und die Stärkung des Rechtsstaats statt Bürokratie gehen nur mit Schwarz-Gelb.
Grob gerechnet fehlen sowohl der Union als auch der FDP vier bis fünf Prozentpunkte, um eine solche Koalition zu bilden. Kann man das bis zur Wahl überhaupt noch aufholen?
Lindner: Das geht. Ein Zwischenschritt sind die letzten Umfragen. Die sehen die FDP im Bundestag und sofort gibt es keine Mehrheit für Schwarz-Grün. Aber auch die dann mögliche Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP ist nicht das, was wir brauchen. Wenn allerdings FDP und Union für einen wirklichen Politikwechsel kämpfen, dann lassen sich Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückgewinnen. Die wissen doch, dass die Wahl der AfD nur die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass SPD oder Grüne wieder in der Regierung sitzen.
Mal ehrlich: Ist ein Großteil dieser Wähler für die etablierten Parteien nicht schon verloren?
Lindner: Nein. Man darf nicht alle Menschen, die die AfD wählen, mit der Partei und ihrer Ideologie in einen Topf werfen. Und abschreiben darf man sie erst recht nicht. AfD zu wählen, ist doch auch ein Signal an die anderen Parteien: Nehmt uns ernst! Eine Rentnerin aus meinem Wahlkreis hat mir beispielsweise erzählt, sie fühle sich nicht mehr sicher, wenn sie wie früher abends nach Köln ins Theater fahre. Diese Bürgerin erwartet, dass der Rechtsstaat überall die öffentliche Sicherheit garantiert. Also müssen wir das liefern.
Friedrich Merz ist zwar ein strammer Konservativer, seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen aber sind eher liberal. Kostet er die FDP womöglich entscheidende Stimmen?
Lindner: Nein. Friedrich Merz und die Union rücken ja schon wieder von ihren ursprünglichen Positionen ab. Man hört, die Union sei offen für Verhandlungen über Steuererhöhungen und die Lockerung der Schuldenbremse. Sogar Robert Habeck als Wirtschaftsminister im Kabinett Merz können sie sich vorstellen. So gewinnt man natürlich keine Wähler von der AfD für Schwarz-Gelb.
Die Wirtschaft und der fehlende Reformeifer der anderen Parteien sind ihr großes Thema im Wahlkampf. Haben die schlechten Umfragewerte der Liberalen auch etwas damit zu tun, dass die Menschen in Deutschland vieles wollen, aber keine Veränderungen?
Lindner: Wir haben uns an einen gewissen Komfort gewöhnt, weil es lange gut lief in Deutschland. Aber wir müssen die Realitäten akzeptieren. Aus meiner Zeit als Finanzminister weiß ich, dass andere Länder uns heute ganz anders sehen als früher – nicht mehr als Motor der Weltwirtschaft, sondern als eine Gesellschaft im Abstiegskampf. Das möchte ich ändern. Noch haben wir alle Chancen.
Sie nehmen sich den innovativen Mut des amerikanischen Unternehmers Elon Musk und den argentinischen Präsidenten Javier Milei zum Vorbild, der seinem Land eine Rosskur verordnet hat, die ihresgleichen sucht. Braucht Deutschland wirklich eine Schocktherapie?
Lindner: Sicher nicht in der Dimension, wie es in Argentinien nötig war. Aber auch wir benötigen einen ambitionierten Richtungswechsel. Milei hat ein völlig ruiniertes Land vorgefunden und musste mit der Kettensäge arbeiten. So weit sind wir nicht. Aber wir werden in Deutschland nichts erreichen, wenn wir nur die Nagelfeile ansetzen. Um im Bild zu bleiben: Wir brauchen eine Heckenschere, um den Staat und seine Bürokratie richtig herunterzuschneiden und im Haushalt mehr Platz für die Bundeswehr, die Infrastruktur, das Bildungssystem und Steuerentlastungen zu schaffen. Das heißt: Bundesbehörden streichen, Staatsapparat verschlanken, Bürgergeld reformieren, grüne Subventionen herunterfahren.

An welche Subventionen denken Sie da?
Lindner: Ich denke an den Klima- und Transformationsfonds. Hier bezuschussen wir heute alles Mögliche mit gewaltigen Summen. Das müssen wir massiv reduzieren. Die erneuerbaren Energien etwa sind längst marktreif, die benötigen keine Subventionen mehr. Ihr Ausbau ist inzwischen sogar so schnell vorangeschritten, dass das Netz nicht mehr hinterherkommt. Wir sollten uns deshalb an dem orientieren, was physikalisch möglich und ökonomisch vernünftig ist und nicht an dem, was grüne Parteitage beschließen. Das ruiniert uns. Mit dieser Politik geht unser Land vor die Hunde.
Ein Thema, um das die Parteien gerne einen Bogen machen, ist die Sozialpolitik. Ob Rente, Pflege oder Krankenkassen - das System wird immer fragiler. Wie würde die FDP die Sozialversicherungen wetterfest machen?
Lindner: Bei der Rente brauchen wir die private Vorsorge für die Jungen. Ich habe deshalb ein Altersvorsorgedepot vorgeschlagen, bei dem der Staat jeden in Wertpapiere investierten Euro mit 20 Cent fördert – ähnlich wie bei der Riester-Rente heute. Durch die Steuerfreiheit der Erträge und den Zinseszinseffekt kommen so auch bei mittleren Einkommen im Laufe des Erwerbslebens hohe sechsstellige Summen zusammen. Diese Reform ist angesichts der demografischen Lage alternativlos. Olaf Scholz ignoriert das. Er macht lieber Wahlkampf mit der Angst vor Rentenkürzungen. Das ist nicht nur eines Kanzlers unwürdig, sondern schlicht gelogen. Rentenkürzungen sind ausgeschlossen.
Wenn immer weniger Beschäftigte für immer mehr Alte aufkommen sollen: Was heißt das denn noch? Länger arbeiten als bis 67, weniger Arztbesuche und höhere Zuzahlungen in der Apotheke?
Lindner: Im Gesundheitswesen brauchen wir schlicht mehr Effizienz. Teure Doppelbehandlungen vermeiden, die hohen Verwaltungskosten der gesetzlichen Krankenkassen senken: Da müssen wir ran.
Robert Habeck rechnet anders. Er will auch auf Kapitalerträge Sozialabgaben erheben und die Mehreinnahmen in das Gesundheitssystem pumpen. Wie rechnet denn die FDP?
Lindner: Aus diesem Vorschlag spricht wenig Wissen über die bestehende Besteuerung von Kapitalerträgen. Dividenden und ausgeschüttete Gewinne werden schon jetzt mit über 48 Prozent belastet, weil der Gewinn im Unternehmen und ein zweites Mal beim Aktionär besteuert wird. Außerdem kann Herr Habeck die Frage nicht beantworten, ob nur gesetzlich Versicherte Sozialabgaben auf Zinserträge, Kursgewinne und Dividenden zahlen sollen oder auch privat Versicherte. Dass der Wirtschaftsminister solche Ideen mitten in einer Wirtschaftskrise spontan im Fernsehen artikuliert, ist für sich genommen schon ein Krisensymptom. Wenn Menschen Eigenverantwortung übernehmen und durch Sparsamkeit eine Rücklage aufbauen, sollte der Staat das nicht erschweren, sondern erleichtern. Der Sparerfreibetrag sollte weiter erhöht werden, wie ich das als Minister getan hatte, und eine Spekulationsfrist eingeführt werden, damit bei langen Haltezeiten keine Steuer auf Verkaufsgewinne anfällt.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, dass die von Ihnen geplanten Steuersenkungen den Staat fast 140 Milliarden Euro kosten würden. Wie wollen Sie diese Lücke schließen?
Lindner: Ich kann diese Zahl nicht bestätigen, aber ja: wir sind sehr ambitioniert. Allerdings ist unser Konzept darauf angelegt, Schritt für Schritt umgesetzt zu werden. Im Gegensatz zu den anderen Parteien machen wir auch Einsparvorschläge, etwa beim Bürgergeld, dem Staatsapparat, der Begrenzung der irregulären Migration oder den grünen Subventionen. Außerdem bringt eine Wirtschaftswende dem Staat auch eine Rendite: Wenn die Wirtschaft in diesem Jahr durch eine gute Reformpolitik um ein halbes, in den nächsten beiden Jahren um jeweils ein Prozent und 2028 um zwei Prozent stärker wachsen würde, hätten wir bis 2029 zusätzliche Steuereinnahmen von mindestens 70 Milliarden Euro jährlich.
Die von Ihnen geforderte Wirtschaftswende hat zum Bruch der Ampel geführt, der unbeliebtesten Regierung, die Deutschland je hatte. Warum profitiert die FDP davon nicht, wo der Ampelfrust im ganzen Land mit Händen zu greifen war?
Lindner: Wir haben einiges erreicht, etwa Steuerentlastungen und stärkere Bildungsförderung. Eine Wende bei der Migration ist eingeleitet und es gibt Rekordinvestitionen unter Einhaltung der Schuldenbremse. Aber dennoch hat die Leute gestört, dass die FDP überhaupt mit zwei linken Parteien koaliert hat. Dazu gab es 2021 aber keine Alternative. Ich hätte eine Jamaika-Koalition mit Armin Laschet vorgezogen, aber die Union war nach der Wahlniederlage nicht abschlussfähig. Jetzt arbeiten wir unser Profil wieder heraus.
Was passiert eigentlich, wenn die FDP den Sprung in den Bundestag verpasst? Beim Schweizer Ringier-Verlag werden Sie schon als Vorstandsmitglied gehandelt...
Lindner: Es freut mich, dass man mir auch andere berufliche Perspektiven zutraut. (lacht) Aber ich tue alles, was in meiner Macht steht, damit die FDP mit einem guten Ergebnis als Stimme der Freiheit in den Bundestag kommt. Das Momentum für uns wächst.
Zur Person
Christian Lindner, 46, ist seit 2013 Bundesvorsitzender der FDP. Zuvor war er von 2009 bis 2011 bereits ihr Generalsekretär. Von 2021 bis zum Ampel-Aus im November 2024 war er Bundesfinanzminister. Der FDP ist er bereits mit 16 Jahren beigetreten.
Der Pressesprecher in spe spricht mit seinem Chef.
Gute Idee! Bei der FDP kann er nicht mehr viel kaputtmachen, und für die Augsburger Allgemeine wär's ein Segen.
Schwarz-Gelbe Koalition (30 + <5) ? Kann der Mann rechnen ? Als Ex-Finanzminister ? Und der Redakteur sieht da auch kein Problem.
Merkel sagte damals.. " Gott hat uns die FDP geschickt um uns zu prüfen." Ich finde solche Aussagen damals wie heute noch billig und unverschämt.. Eigentlich müssten sich unserer Parteien heute zusammen tun um unser Land zu retten, zum Wohle des Volkes.. Was bei uns politisch im Land passiert ist ein gegenseitiges Abwatschen und Bekämpfen. Der Posten eines Kanzler ist so umkämpft von machtbesessenen Politikern, wo jeder denkt er kann es besser.. Lindner wäre ein guter Minister aber er will der alleinige Herrscher seiner Partei sein, wie Wagenknecht bei ihrer BSW... Die Grünen und die SPD, wenn man Hirn hat dürfte man nicht mehr wählen.. die haben das Merkel Desaster noch schlimmer gemacht.. Wir müssen aus den weltweiten Verpflichtungen raus zumindest soweit zurück, dass unser Land nicht total verarmt, kaputt geht.. Warten wir ab was die Wahl bringen wird.. vor allen muss Demokratie gelebt werden und nicht nur als Rechtfertigung gesehen, oder als Vorwand gelten..
Die Grünen und die SPD, wenn man Hirn hat dürfte man nicht mehr wählen ... So, was waehlt man denn mit Hirn ? Fuer so eine Aussage muessten Sie schon nachweisen, dass Sie besonders viel davon haben.
Karl Brenner Frau Böhm, anscheinend wünschen Sie mehr Zusammenhalt unter den traditionell demokratischen Parteien und sind "gegen gegenseitiges Abwatschen und Bekämpfen". Ich sehe es genauso und frage mich, warum die wichtigsten Parteivertreter von Schwarz-Rot-Grün-Gelb nicht im Bundestag vor dem Wahlkampf gemeinsam eine Erklärung abgegeben haben, dass ihre Hauptgegner die sind, die unser politisches System und unser Rechtssystem verachten, und dass sie alle bereit sind, die großen Herausforderungen unserer Zeit zum Wohle des Volkes anzugehen, wenn auch mit unterschiedlichen Rezepten. Unter diesen sollen eben die Wähler auswählen. Sie selbst bezeichnen aber mich "ohne Hirn", weil ich der Meinung bin, dass die Grünen in der Ampelregierung einiges an Erfolg zu verbuchen haben und weiter mitregieren sollen. Ich glaube, für jemand, der für mehr Zusammenhalt ist, sollten Sie im Urteil gegenüber Anderen vorsichtiger sein.
Wie kommen Sie darauf, dass Lindner ein guter Minister sein könnte? Noch dazu, wenn Ihrer Ansicht nach ein ganzes Land gerettet werden muss? Für beides wäre eine Begründung sehr interessant.
Lindner, der die Ampelregierung immer wieder in Schieflage gebracht hat, vieles verzögert hat, vieles – auch sehr Notwendiges - blockiert hat, nicht bereit war zum Kompromiss und zu einen Blick auf die Realität, der soll der Heilsbringer sein? Lächerlich. Alles, was er anführt, hätte er mit der Ampel auf den Weg bringen können – und hat er sich als Bremsklotz betätigt. Ich hoffe sehr, dass die FDP es nicht in den Bundestag schafft. Solche Möchtegerne wie Lindner hat das Land nicht verdient.
Ich sehe eher dass Lindner von der SPD und den Grünen zum Sündenbock ausgesucht wurde.. Für Lindner war es eine Chance sich und seine Partei nach vorne zu bringen.. Die FDP war immer schon ein Unternehmer Partei. Ich weiß wer die Grünen sind.. ich bin mit ihnen aufgewachsen und die SPD war mal lange wählbar.. aber heute nicht mehr, deren Köpfe haben sich zum schlechten verändert..
Ich glaube Herr Lindner sollte mal den Ball flach halten. Sich so gegen die Grünen zu äußern ist schon ein Unding. Lieber gar nicht Regieren als schlecht regieren, wäre auch vor der Ampel besser gewesen, denn so Unschuldig, wie er sich jetzt da stellt ist er bei weiten nicht gewesen. Ich finde es gut, wie sie es beschrieben haben Frau Reichenauer!!!
Karl Brenner Herr Lindner hat die Arbeit der Regierung seit Beginn 2024 zur Qual gemacht. Für mich war es der Fehler des Kanzlers, dass er nicht schon spätestens im Juni oder Juli seinen Finanzminister entlassen hat, da das Vertrauen völlig zerrüttet war. Dass Sie Herrn Lindner zum Opfer von Rot-Grün machen ist, meines Erachtens völlig absurd.
Immer wieder interessant, wie manche sich die Realität zurechtbiegen. Immer wieder wird der Überbringer der Nachricht geschlagen, aber die Verursacher des eigentlichen Dilemmas werden hofiert! Verkehrte Welt bzw. mit dem Verständnis der Wählenden ist es auch nicht weit her.
Sie erkennen aber schon noch den Unterschied einer Nachricht und einer prsönlichen Ansicht?
Wohlgemerkt ein Leitartikel, kein Kommentar. Also die Richtungvorgabe für die Meinung einer ganzen Zeitung... einer FDP-Postille?
Da wird in den 16 schwarzen Jahren alles in unserem Land kaputtgespart - von der Schienen- und Straßeninfrastruktur über die Bundeswehr bis hin zu den Schulen und dann soll noch irgendjemand daran glauben, dass es diesmal mit der CDU und einem kleinen gelben Anhängsel mit dessen Schuldenbremsen-Fetisch besser werden kann...so stark lässt sich keine Realität verbiegen!
Es ist irgendwie wie mit dem Blinddarm. Den kann man auch entfernen und keiner merkt es :-))
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