Inzidenzwert oder Hospitalisierungsrate: Welches Corona-Warnsystem brauchen wir?
Die Politik hat sich im Sommer von der Inzidenz verabschiedet. Die vierte Welle zeigt: Das war ein fataler Irrtum, oft wurde deswegen zu spät reagiert. Kommt nun die Kehrtwende?
Mit der Ausbreitung der Omikron-Mutation wird ein schnelles Ende der Corona-Pandemie wieder unwahrscheinlicher. Damit gewinnt auch die Frage an Bedeutung, welche Richtwerte künftig als Maßstab für das politische Handeln herangezogen werden. Denn gerade die zu spät eingeleiteten Gegenmaßnahmen in der vierten Welle sorgten dafür, dass die Zahlen regelrecht explodieren konnten. In den ersten drei Wellen war es der Inzidenzwert, der über Lockdown und Öffnungsschritte bestimmt hat. Mit steigenden Impfraten geriet die Kennzahl in die Kritik. Nun aber könnte es zu einer Rückkehr des Inzidenzwertes kommen – auch, weil sich der Blick auf die sogenannten Hospitalisierungsraten als zu träge erweist.
Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes schuf der Bundestag die Möglichkeit, dass Bundesländer ihre Gastronomie schließen. „Das ist gebunden an die Inzidenz“, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in einem Interview. „Die Inzidenz ist wieder zurück, wenn man so will. Es war ja in der Vergangenheit sehr viel auf den Hospitalisierungswert gelegt worden.“ Jetzt spiele auch die Inzidenz wieder eine große Rolle. „Das ist etwas, was ich als Wissenschaftler und Minister sehr begrüße.“ Der Wert sei ein wichtiges Instrument, das helfe, die Entwicklung frühzeitig zu analysieren. Genau darauf zielte die Kritik am Hospitalisierungswert. Der gibt an, wie viele von 100.000 Menschen in der zurückliegenden Woche wegen Corona in eine Klinik eingeliefert wurden. Das Problem: Wird hier eine kritische Schwelle überschritten, ist es für Maßnahmen häufig zu spät, da die Krankenhäuser bereits volllaufen. Die Inzidenz warnt früher: Denn der Gesundheitszustand von positiv Getesteten verschlechtert sich in der Regel erst einige Tage später.
Karigiannidis: "Inzidenzwert war und ist der maßgeblich Frühindikator"
Der Intensivmediziner Christian Karagiannidis glaubt, dass Deutschland eine Inzidenz von unter 200 braucht, um seine Intensivstationen arbeitsfähig zu halten – aktuell liegt der Wert bei knapp 400. Er fordert vor allem wegen Omikron einen genauen Blick auf die Inzidenz. „Aber die Grenzwerte können oder werden für Omikron andere werden, daher brauchen wir dringend klinische Daten zum Verlauf, um hier robuste Grenzen setzen zu können“, sagte er unserer Redaktion. „Die Inzidenz war und ist der maßgebliche Frühindikator. Eine ohne Meldeverzögerung erhobene Hospitalisierungsrate und Intensivbelegung mit Covid-19 sind wichtige zusätzliche Faktoren in diesem Dreiklang. Das ist und war seit Beginn der Pandemie so.“ Gerade mit Blick auf die wohl ansteckendere Mutante sei es wichtig, die Zahlen zu senken. „Wir haben die Fallzahlen viel zu lange viel zu weit nach oben schnellen lassen“, kritisierte er.
Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek ist zurückhaltend, was die Inzidenz angeht. Die Rahmenbedingungen hätten sich stark verändert, der Inzidenzwert sei „nicht mehr so aussagekräftig wie zu Zeiten, als nur wenige Menschen geimpft waren“. Er stehe deshalb nicht mehr im Mittelpunkt der politischen Entscheidungen, wichtig sei die Belegung der Intensivbetten. Ganz aus dem Blick wird der Wert aber auch in Bayern nicht geraten. So wird im Freistaat eine Region zum Hotspot, wenn eine Inzidenz von 1000 überschritten wird. Auch deshalb räumt Holetschek ein: „Zwar steht die 7-Tage-Inzidenz nicht mehr im Zentrum der Entscheidung für Schutzmaßnahmen, sie war und ist aber stets – neben vielen weiteren Parametern – ein wichtiger Indikator für die Entwicklungen des Infektionsgeschehens und hat dabei weiterhin die Funktion, auf mögliche Überlastungen des Gesundheitswesens frühzeitig hinzuweisen.“
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Bei Druck aufbauen scheint die Regierung aber ganz gut den Durchblick zu haben.
Toll. Nach 2 Jahren ist man sich offensichtlich immer noch nicht im Klaren welcher Indikator welches Gewicht hat. Diese unterschiedliche Gewichtung hat dann auch unterschiedliche Reaktionen zur Folge. M.e. kann es nur einen Gesamtindikator geben, wie immer man den auch nennt, der sich aus verschiedenen Datenquellen, wie Inzidenz, Hospitalisierung, Impfquote ... zusammensetzt.
Es wäre einfach (das hat z. B. Ch. Drosten oder K. Stöhr schon letztes Jahr vorgeschlagen): Die Inzidenz der über 50-jährigen wäre ein guter Indikator, um das Infektionsgeschehen zu monitoren. Denn diese tragen die Hauptkrankenlast in den Kliniken - nicht die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, auch wenn bei den unter 18-jährigen die höchste Inzidenz zu finden ist (was halt auch daran liegt, dass es neben dem Gesundheitspersonal die einzige Gruppe ist, die regelmäßig an die Pflichttests teilnehmen müssen).
Dass die Hospitalisierungsinzidenz nicht so erfolgreich war, lag einfach dran, dass man sich offensichtlich nicht wirklich Gedanken gemacht hat, welche Grenzwerte sinnvoll sind und was passiert, wenn dieser erreicht bzw. überschritten wird. Also wieder einmal: Politisches Versagen...