Wer Aufnahmen von Evan Gershkovich aus den vergangenen Monaten anschaut, sieht einen scheinbar unbeschwerten Mann. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen, er scherzt mit den beiden Frauen neben ihm. Zwischen ihnen: eine Glasscheibe. Die Aufnahmen sind bei einer Anhörung vor Gericht entstanden, die beiden Frauen sind Gershkovichs Anwältinnen.
Der 32-jährige US-Amerikaner sitzt seit über einem Jahr in Russland im Gefängnis. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft dem Reporter des Wall Street Journal Spionage vor, Belege dafür gibt es keine. Seit März 2023 wurde Gershkovichs Untersuchungshaft mehrfach verlängert, lange war kein Datum für einen Prozess festgelegt. Der beginnt nun an diesem Mittwoch, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Gershkovich drohen bis zu 20 Jahre Haft.
Seit 2017 arbeitete er in Russland, zunächst für die Moscow Times, später für die Nachrichtenagentur afp. Gershkovichs Eltern waren Ende 1970er-Jahre aus der Sowjetunion in die USA geflüchtet. Mit Gershkovich und seiner älteren Schwester sprachen sie russisch, den kleinen Evan riefen sie Wanja. Durch seine Arbeit als Journalist habe ihr Bruder seine Herkunft erforschen wollen, sagt seine Schwester Danielle. Er habe von der lebendigen Jugendkultur, vom weltstädtischen Moskauer Leben und den schönen Museen geschwärmt.
Seiner Freundin schickte Evan Gershkovich zum Geburtstag Tulpen
Gershkovich sei es immer leicht gefallen, Menschen für sich zu gewinnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, erzählt seine Freundin Polina Ivanova. Auch mit seinen Mitinsassen verstehe er sich gut. Wenn Gershkovich allein in seiner kleinen Zelle ist, hebt er Gewichte, schreibt oder liest russische Literatur. Mit seinem Vater spielt er Schach – ihre Züge schicken sie sich per Brief. „Ich darf nicht warten, ich muss leben“, schrieb Gershkovich seiner Freundin Ivanova. Zum Geburtstag ließ er ihr zwei Sträuße rote Tulpen schicken.
Zuletzt sagte Russlands Präsident Wladimir Putin, er sei bereit, Gershkovich gegen im Westen inhaftierte Russen auszutauschen. Vielleicht macht auch das Gershkovich nach über einem Jahr Haft Hoffnung. Als seine Schwester ihm im Frühjahr von ihrem Umzug erzählte, fragte er, ob es in dem neuen Haus ein Gästezimmer gebe. Damit er sie besuchen könne, wenn er wieder frei sei.