Im Oktober 2024 dringen mehrere vermummte Personen in das Präsidium der Freien Universität Berlin ein. Sie zerren Mitarbeitende gewaltsam aus ihren Büros und versuchen, das Gebäude zu besetzen. Als wenig später die Polizei eintrifft, ergreifen sie die Flucht. Drei Frauen und ein Mann werden vorläufig festgenommen. Zurück lassen sie antisemitische Schmierereien und Schriftzüge sowie rote Dreiecke. Das rote Dreieck ist ein Symbol der Hamas zur Markierung von Feinden, kann je nach Kontext aber auch Ausdruck einer propalästinensischen Haltung sein – und als antisemitischer Vorfall gewertet werden.
Viele jüdische Studierende fühlen sich an Universitäten nicht mehr sicher
Die bundesweite Meldestelle Rias dokumentierte im Jahr 2024 450 antisemitische Vorfälle an deutschen Hochschulen. Der Besetzungsversuch in Berlin ist ein extremes Beispiel dafür. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl fast verdreifacht, 2023 lag sie noch bei 151. Auch die Gesamtzahl ist im vergangenen Jahr drastisch gestiegen, von 4886 Vorfällen im Jahr 2023 auf 8627 im Jahr 2024. Ein Anstieg um fast 77 Prozent. Die meisten Vorfälle ereigneten sich in Berlin, gefolgt von Bayern und Nordrhein-Westfalen.
„Viele meiner jüdischen Kommilitoninnen und Kommilitonen fühlen sich an ihren Universitäten nicht mehr sicher“, sagte der Präsident der Jüdischen Studierendenunion in Deutschland, Ron Dekel. Antisemitische Schmierereien und gewaltvolle Übergriffe gehörten zu ihrer Realität. Und auch das Wort „Intifada“ – ein Aufruf zur Gewalt an Jüdinnen und Juden – sei kein unbekannter Begriff unter Studierenden und werde auf deutschen Campussen ganz offen gefordert.
Ein Großteil der Vorfälle an deutschen Hochschulen fällt auf die 147 antisemitischen Versammlungen zurück, zu denen auch sogenannte Protestcamps gehören. So habe Rias zufolge eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten im November 2024 ein mehrtägiges „Sit-in“ auf dem Campus einer Hochschule in Jena abgehalten. Rednerinnen und Redner hätten dort NS-Vergleiche mit Israel gezogen und antisemitische Verschwörungserzählungen reproduziert. Die Vorfälle an Hochschulen ordnet Rias mehrheitlich dem antiisraelischen und links-antiimperialistischen Spektrum zu. Gleichzeitig erreichten auch antisemitische Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund im Jahr 2024 einen neuen Höchstwert.
Zunahme von Antisemitismus „unmittelbare Reaktion“ auf den 7. Oktober 2023
90 Prozent der Vorfälle an Hochschulen sind dem israelbezogenen Antisemitismus zuzuordnen – laut Bianca Loy die häufigste Erscheinungsform von Antisemitismus. Loy ist wissenschaftliche Referentin des Bundesverbands Rias und Co-Autorin des Jahresberichts für 2024. Die Zunahme von israelbezogenen antisemitischen Vorfällen bedeute allerdings keinen Rückgang anderer Formen, merkte sie an. Vielmehr trete israelbezogener Antisemitismus häufig in Verbindung mit einer Relativierung des Holocausts auf: „So wurde etwa in Berlin der Gazastreifen mit Auschwitz gleichgesetzt und in Leipzig die Parole ‚one Holocaust does not justify another‘ an einem Gedenkort für eine zerstörte Synagoge angebracht.“
Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz wertete den massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle als unmittelbare Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Er kritisierte, dass Debatten darüber, was als antisemitische Äußerung gilt, oft einen größeren Raum einnehmen würden als die Empathie mit Betroffenen. Und er fügte hinzu: „Antisemitismus zu benennen und zurückzuweisen, Betroffenen von Antisemitismus zu glauben und ihnen Solidarität zu zeigen, steht nicht im Widerspruch dazu, Anteil zu nehmen an der Situation der Menschen in Gaza oder die israelische Regierung für ihr Vorgehen zu kritisieren.“
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