Türkei, Armenien und der Völkermord: Zwei Erzfeinde nähern sich an
Die Türkei und Armenien versuchen ihr durch einen Völkermord im Ersten Weltkrieg historisch schwer belastetes Verhältnis zu normalisieren.
Die Türkei und ihr nordöstlicher Nachbar Armenien haben mit einem neuen Anlauf zur Lösung ihrer vielen Probleme begonnen. Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt sprachen Sondergesandte beider Länder über eine Normalisierung ihrer Beziehungen und eine Öffnung der türkisch-armenischen Grenze in Nordostanatolien, die seit fast 30 Jahren geschlossen ist. Die politische Großwetterlage schafft günstige Voraussetzungen für einen Erfolg, doch neue Spannungen könnten den Verhandlungsprozess jederzeit entgleisen lassen.
Historischer Ballast, der Konflikt um die Kaukasus-Region Berg-Karabach und das Bündnis der Türkei mit Aserbaidschan haben bisher alle Bemühungen um eine Normalisierung scheitern lassen. Ankara weigert sich, die Massaker an den Armeniern auf dem Gebiet der heutigen Türkei im Ersten Weltkrieg als Völkermord zu verurteilen. Für Armenien, das bis zu 1,5 Millionen Opfer des Genozids beklagt, ist die Position inakzeptabel.
Annäherung zwischen der Türkei und Armenien
Eine türkische Initiative zur Beilegung des Dauerstreits mit Armenien im Jahr 2009 blieb erfolglos, auch weil Aserbaidschan nicht einverstanden war. Für die Türkei sei das Bündnis mit Aserbaidschan stets wertvoller gewesen als potenzielle politische Vorteile durch eine Annäherung an Armenien, analysiert Nigar Göksel von der Denkfabrik International Crisis Group. Doch die Gebietsgewinne für Aserbaidschan im jüngsten Krieg gegen Armenien um Berg-Karabach vor anderthalb Jahren hätten die Lage entscheidend verändert, sagte Göksel der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos. Die Aserbaidschaner konnten damals mit türkischer Waffenhilfe einige Gebiete zurückerobern, die von Armenien in den neunziger Jahren besetzt worden waren.
Aserbaidschan ist nach diesen Erfolgen eher bereit, eine Annäherung zwischen der Türkei und Armenien zu tolerieren. Gleichzeitig hat die armenische Niederlage im Krieg in Eriwan das Vertrauen auf militärischen Schutz durch Russland erschüttert, sodass eine Normalisierung mit der Türkei ratsam erscheint. Alle drei Länder sind zudem am Aufbau besserer Handelswege interessiert, um Energielieferungen aus Zentralasien in Richtung Europa zu erleichtern und die Region an dem chinesischen Großprojekt der Neuen Seidenstraße teilhaben zu lassen, die Asien, Europa und den Nahen Osten enger miteinander verbinden soll.
Ab Februar soll es direkte Flüge zwischen Istanbul und Eriwan geben
Für die Türkei kommt ein weiteres Motiv hinzu. Die Beziehungen zur westlichen Führungsmacht USA sind seit Jahren in der Krise und haben sich seit dem Amtsantritt von Joe Biden vor einem Jahr noch einmal verschlechtert. Biden hat als erster amerikanischer Präsident den Völkermord an den Armeniern offiziell anerkannt. Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg forderte Biden im vergangenen Jahr seinen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan auf, die Grenze zu Armenien zu öffnen. Ankara hofft, dass eine Normalisierung mit Armenien auch das Verhältnis zu den USA entspannen könnte.
Die erste Runde der neuen türkisch-armenischen Verhandlungen am Freitag in Moskau verlief nach gleichlautenden Mitteilungen der Außenministerien beider Länder „positiv und konstruktiv“. Beide Seiten wollten die Gespräche mit dem Ziel einer „vollständigen Normalisierung“ und ohne Vorbedingungen fortsetzen. Als Zeichen des guten Willens hat Armenien kürzlich ein Importverbot für türkische Güter aufgehoben. Ab Februar soll es wieder direkte Flüge zwischen Istanbul und Eriwan geben.
Dass Türkei und Armenien nun nach langer Zeit wieder direkt miteinander sprechen, ist jedoch keine Garantie für einen Erfolg der Initiative. Der Widerstand türkischer Nationalisten gegen eine Grenzöffnung oder ein Wiederaufflammen des Karabach-Konflikts könnten den Verhandlungsprozess beenden. Kurz vor dem Moskauer Treffen nahmen die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder zu: Bei neuen Scharmützeln in der Karabach-Region starben drei Soldaten. Die zwei Länder gaben sich gegenseitig die Schuld an der Eskalation.
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