St. Gallen ist gewiss nicht zuerst für Fußball bekannt. Touristen besuchen in dieser südlichen Region des Bodensees meist Stiftskirche und Stiftsbibliothek, die bestens zum gemütlichen Antlitz dieses unaufgeregten Städtchens auf Schweizer Seite passen. Fußball wird ein ganzes Stück draußen im Kybunpark gespielt, der einem riesigen Einkaufszentrum ähnelt. Tatsächlich ist die Ladenfläche dreimal so groß wie das Spielfeld, weswegen die deutschen Fußballerinnen bei ihrem EM-Auftakt gegen Polen (Freitag 21 Uhr/ARD und DAZN) aber nicht gleich in Shoppingverdacht geraten.
Dafür haben sie lange genug auf den Startschuss hingefiebert, für den die am Bodensee aufgewachsene Kapitänin Giulia Gwinn versicherte: „Es brennen alle.“ Das erste Spiel gegen den EM-Neuling soll gewonnen werden, um nicht für die folgenden Partien gegen Dänemark in Basel (Dienstag, 18 Uhr) und Schweden in Zürich (12. Juli/21 Uhr) unnötig unter Druck zu geraten. Für einen Gipfelsturm, auf den sich Gwinn mit ihren Mitstreiterinnen inzwischen in öffentlicher Verlautbarung erst in Herzogenaurach, dann in Zürich verständigt hat, sollte die allererste Etappe nicht zur Stolperfalle werden.
Hier feierte Hansi Flick seinen Einstand
In der 2008 eröffneten Heimstätte des FC St. Gallen hat Hansi Flick als Bundestrainer im September 2021 seinen Einstand gegeben: Ein WM-Qualifikationsspiel gegen Liechtenstein gewann seine Nationalelf damals mehr schlecht als recht mit 2:0 - Timo Werner und Leroy Sané sorgten damals für die einzigen schwarz-rot-goldenen Lichtblicke. Weil Flick in seiner Zeit als Sportdirektor die Leitlinien entwarf, an denen Wück früher als DFB-Nachwuchscoach kräftig mitgearbeitet hat, die ihm bis heute als erste Orientierung dienen, schließt sich ein verbandsinterner Kreis.
Für den 52-Jährigen ist die Polen-Partie gleich ein „Knackpunkt, um in diesen Flow reinzukommen. Jede deutsche Mannschaft, egal ob Männer oder Frauen, die irgendwann mal etwas gewonnen hat, hat eine Siegermentalität entwickelt.“ Nur: Beim letzten EM-Sieg der DFB-Frauen 2013 in Schweden dauerte es eine ganze Vorrunde, bis das Sieger-Gen implantiert war: Einer Nullnummer gegen die damals noch zweitklassigen Niederländerinnen folgte ein Pflichtsieg gegen die Isländerinnen, dann eine Niederlage gegen die Norwegerinnen. Es rumpelte in drei Gruppenspielen so kräftig, dass die inzwischen für die Schweiz als Torwarttrainerin tätige Nadine Angerer erstmal das Team ohne Bundestrainerin Silvia Neid zur Aussprache auf der Insel Öland versammelte, um auf Titelkurs zu kommen.
Wück möchte es natürlich anders haben. Und auch der Verband sehnt sich nach Olympia-Bronze von Paris nach dem nächsten Ausrufezeichen für den Frauenfußball, damit mehr Mädchen in die Vereine strömen. Die Nachwuchsteams haben empfindliche Rückschläge erlitten, was über eine größere Breite aufgefangen werden soll. Weil Wück im männlichen Bereich ausgiebig bewiesen hat, jungen Kräften zu vertrauen, erhielt der Mann überhaupt den Zuschlag für das Aushängeschild des Frauenfußballs.
Christian Wück hat sich auf eine Startelf festgelegt
Der gebürtige Unterfranke lebte die vergangenen Tage die Überzeugung für die Titelmission vor. Klare Ansagen auf dem Trainingsplatz, ansonsten aber auch mal lange Leine in der Freizeit. Mitsingen beim Wolfgang-Petry-Besuch, mitlachen beim Ausflug auf die Rigi am Vierwaldstättersee. Und dass Freunde, Freundinnen und Familie am Samstag Zugang ins luxuriöse Teamhotel bekommen, hat es in dieser Form auch noch nicht gegeben. Noch ein Detail, das den Wohlfühlfaktor steigert, wenn das überhaupt gerade möglich ist. Jeder kennt seit Wochen seine Rolle: Die Startformation, die Ende Mai in Bremen gegen die Niederlande (4:0) auftrumpfte, genießt beim ersten EM-Spiel das Vertrauen.
Wück hat auch nicht die Befürchtung, dass Rebecca Knaak und Janina Minge in der Abwehrzentrale gegen Starstürmerin Ewa Pajor womöglich zu langsam sind „Wir haben in der Nations League bewiesen, dass wir in der Lage sind, zu Null zu spielen. Die Mannschaft hatte in diesen sechs Spielen eine Gegentor-Quote von 0,67“, argumentierte der Bundestrainer. Man könne „immer weiter darauf herumreiten, dass wir in der Defensive nicht die absoluten Weltklasse-Spielerinnen haben, aber ich bin der Meinung, dass wir sowohl in der Offensive als auch in der Defensive sehr gut aufgestellt sind.“ Muss jetzt nur noch vom achtfachen Europameister in der Grenzregion bewiesen werden.
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