Startseite
Icon Pfeil nach unten
Sport
Icon Pfeil nach unten

Turnen: Neue Vorwürfe im Stuttgarter Turn-Skandal

Turnen

Neue Vorwürfe im Stuttgarter Turn-Skandal

    • |
    • |
    Die ehemalige Weltklasse-Turnerin Janine Berger berichtet von einem Strafenkatalog, den die damals minderjährigen Sportlerinnen unterschreiben mussten.
    Die ehemalige Weltklasse-Turnerin Janine Berger berichtet von einem Strafenkatalog, den die damals minderjährigen Sportlerinnen unterschreiben mussten. Foto: Friso Gentsch, dpa

    Das deutsche Turnen steckt in einer Krise. Die einstige WM-Dritte Tabea Alt hatte auf Instagram skandalöse Zustände im deutschen Frauenturnen geschildert und damit eine Welle an Missbrauchsvorwürfen ausgelöst. Mehrere andere Turnerinnen erhoben in der Folge ebenfalls schwere Vorwürfe gegen die Arbeit am Bundesstützpunkt in Stuttgart. Kritisiert wurden systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch. Der Skandal hat inzwischen Konsequenzen für die frühere Bundestrainerin Ulla Koch, die ihr derzeitiges Amt als Vizepräsidentin des Deutschen Turner-Bundes (DTB) für die Dauer der Aufarbeitung ruhen lässt.

    Ex-Turnerin misstraut dem Aufklärungswillen des DTB

    Am späteren Montagabend gab der DTB auf seiner Homepage bekannt, „die Kanzlei Rettenmaier Frankfurt mit der umgehenden Untersuchung der Vorwürfe zu beauftragen“. Ziel der „unabhängigen anwaltlichen Untersuchung“ sei zum einen, die einzelnen Vorwürfe zu untersuchen. Zum anderen sollen die Vorkommnisse mit Blick auf mögliche organisatorische und systemische Mängel betrachtet werden. Unter den betroffenen Sportlerinnen sorgt diese Nachricht für Unverständnis. Die ehemalige Weltklasse-Turnerin Janine Berger sagte unserer Redaktion, dass bei ihr und vielen anderen Athletinnen „das Vertrauen in eine Aufklärung beim DTB absolut nicht gegeben ist“. Sie zweifle die Unabhängigkeit einer vom DTB selbst installierten Kommission an.

    Unabhängige Wissenschaftler wollen ebenfalls analysieren

    Rund um die Vorwürfe in Stuttgart will nun auch eine universitäre Forschungsgruppe die Vorgänge untersuchen. Zu der Gruppe gehören die Professoren Alexander Baur (Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Göttingen) und Stephan Christoph (Juniorprofessur für Kriminologie an der Universität Regensburg), Dr. Thaya Vester (Institut für Kriminologie an der Universität Tübingen) und die Forschungsgruppe Sportpsychiatrie und -psychotherapie der Medizinischen Fakultät der Universität Augsburg. Gegenüber unserer Redaktion erklärte Vester, dass man sich dem Thema aus wissenschaftlicher Warte widmen wolle, „um ein Lagebild zu erstellen, inwieweit Athlet*innen im Turnleistungssport interpersonaler Gewalt ausgesetzt waren“. Die Forschungsgruppe sehe sich dabei nicht in Konkurrenz zur beauftragten Anwaltskanzlei oder zu staatsanwaltlichen Ermittlungen. „Wir möchten aus einer neutralen, unabhängigen Position eine fundierte Analyse des Ist-Zustands liefern, um daraus abzuleiten, welche Präventions- und Schutzkonzepte künftig Wirkung entfalten können.“ Berger bezeichnete das Angebot der unabhängigen Wissenschaftler als „Jackpot für den Verband“. Vonseiten der betroffenen Turnerinnen sei der Zuspruch groß.

    Gleichzeitig kritisierte Berger eine Meldung des DTB, in der der Verband seiner ehemaligen Bundestrainerin attestierte, die Persönlichkeitsentwicklung der Athletinnen in den Vordergrund gestellt zu haben. Die Olympia-Vierte von 2012 frage sich: „Muss Persönlichkeitsentwicklung beim DTB so verstanden werden, dass zahlreiche Athletinnen nach ihrer Karriere den Weg in die Therapie antreten müssen? Dass minderjährigen Turnerinnen das Geld aus der Tasche gezogen wird, um die ‚Entwicklung´ zu fördern?“

    Kleine Strafen mussten direkt der Bundestrainerin gegeben werden

    Berger spielte damit auf einen Strafenkatalog an, den sie und rund 20 andere damals noch minderjährige Turnerinnen 2011 während eines Lehrgangs unterschreiben mussten (liegt unserer Redaktion vor). Dabei ging es um das Verhalten im Rahmen der Nationalmannschaft und bei Lehrgängen. Themen waren die Kleiderordnung bei internationalen Einsätzen (ein Stichpunkt lautete: Adäquate Unterwäsche), aber auch die Dokumentation des Trainings. Die Sanktionen haben eine große Bandbreite und reichen von Sperrung der Wettkampfprämien und sofortiger Heimreise auf eigene Kosten bis hin zu einer Geldstrafe von 50 Euro.

    In bar hätte man, so Berger, für kleinere Regelverstöße zahlen müssen. Balken- oder Balletttraining sei zum Beispiel nur im Turnanzug erlaubt gewesen. Wer dagegen verstieß, habe der Bundestrainerin 50 Cent geben müssen. „Nicht zu unterschreiben war keine Möglichkeit, sonst wäre man laut ihr aus dem Kader geflogen“, sagte Berger. „Wenn wir zum Beispiel eine Hose am Balken trugen, mussten wir die Strafzahlung direkt begleichen – ohne Kenntnis meiner Eltern.“

    Deutlich teurer wurde es im Jahr 2013, als Berger und eine weitere Turnerin eine Geldstrafe von 500 Euro zahlen mussten, weil sie sich mit männlichen Jugendlichen getroffen hatten. „In einer Privatnachricht von Ulla Koch wurde ich aufgefordert, das Geld als Spende an den Turnclub Deutschland zu zahlen.“ Dort ist Ulla Kochs Ehemann Dieter Koch als Präsident tätig. Laut Homepage hat sich der Verein zum Ziel gesetzt, die „olympischen Sportarten Kunstturnen weiblich und männlich und deren Nationalmannschaften, die zum Turn-Team Deutschland gehören“ zu fördern. Der DTB ließ eine Anfrage unserer Redaktion bezüglich des Strafenkatalogs unbeantwortet.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden