Misswahlen: Von Königinnen und Eintagsfliegen
Oberweite, Umfang Taille, Umfang Hüfte - und bitte keine Nacktfotos: Wer heute Miss Germany werden möchte, muss ein langes Formular ausfüllen. Datenschützer mag es Schweißperlen auf die Stirn treiben, jungen Frauen nicht.
Rund 5000 wollen jedes Jahr Titel, Schärpe und Krönchen erobern. Sie stehen in einer langen Tradition. Vor 125 Jahren, am 19. September 1888, gab es im mondänen belgischen Badeort Spa den ersten Schönheitswettbewerb Europas. Frauenbild und Schönheitsideale haben sich verändert, doch die Lust am Konkurrenzkampf scheint zeitlos zu sein. Schönheitswettbewerbe sind ein Spiegel ihrer Zeit geblieben - und der Gesellschaft.
Griechische Statue mit Dekolleté
Die erste Schönste Europas hieß Marthe Soucaret, und ihre Pose erinnert an eine griechische Statue - nur mit Dekolleté. Die Wahl im Kursaal gehörte damals zu den gesellschaftlichen Top-Ereignissen und erinnerte an die Krönung einer Königin. Wer heute Miss-Germany-Wahlen in Einkaufszentren beobachtet, wird diesen glamourösen Anfang kaum erahnen. In Berlin waren sie mit so illustren Namen wie Marlene Dietrich oder Heinrich Mann verknüpft, die sich für den Titel Miss Germany stark machten. Und auch das "Wir-sind-wieder-wer"-Gefühl der westdeutschen 1950er Jahre, als es Petra Schürmann (1933-2010) zum Nationalsymbol brachte, war beachtlich. Alles Vergangenheit.
Totsagen wollen Soziologen die Misswahlen trotzdem nicht. Allerdings seien sie heute nur ein Unterhaltungsformat von vielen, sagt Veit Didczuneit, Forscher am Berliner Museum für Kommunikation. Gegen die Casting- und Talentshows im Fernsehen wirkten sie sogar eher altbacken. "Da geht es um mehr als 90-60-90", ergänzt Didczuneit. Das Prinzip sei aber immer gleich, ob nun züchtige, hausbackene oder sexy Kandidatinnen gefragt seien: Der Siegerin winken Anerkennung und Preise, den Veranstaltern Gewinn.
Miss-Wahlen als "Kleinstadt-Sache"
Wer kennt schon Caroline Noeding, die amtierende Miss Germany? Ralf Klemmer, der sich die Marke "Miss Germany" gesichert hat und das dazugehörige Unternehmen betreibt, sieht das naturgemäß anders. "Caroline studiert Mathematik und hat schon George Clooney getroffen", sagt er. Doch auch Klemmer räumt ein, dass Miss-Wahlen heute eine "Kleinstadt-Sache" seien. Das Motiv der Bewerberinnen? "Viele Mädchen wollen dem Alltag entfliehen", antwortet er. Die Landessiegerinnen bekämen einen Computer, die Miss Germany ein Auto.
Misswahlen sind von Anfang an auch ein Geschäft. Als Erster erkannte das Mitte des 19. Jahrhunderts ein US-Zirkusunternehmer, der Hunde und Babys prämieren ließ. An der Idee, solche Wahlen auf hübsche Frauen auszuweiten, biss er sich im puritanischen Amerika allerdings die Zähne aus. Das höchste der Gefühle blieb die Bewertung von Fotos. Der Umschwung kam erst mit der Bademode. 1880 gab es in Rehoboth Beach im US-Staat Delaware die erste Wahl einer Miss United States. Die Damen trugen züchtige Kleider. Und die Veranstalter erhofften sich mehr Tourismus für ihre Region.
"Willste'n Fahrrad gewinnen?"
So war es kein Zufall, dass das belgische Spa die Idee 1888 kopierte - und durch das große Presseecho in Europa etablierte. 1909 zog Deutschland nach. Zu einem großen Gesellschaftsereignis aber wurden Misswahlen erst in der Weimarer Republik. In der Unterhaltungsmetropole Berlin standen bekannte Schriftsteller und Künstler hinter der Kür in noblen Hotels, ihr Promi-Faktor zog.
Veit Didczuneit hat die Geschichte der deutschen Misswahlen für das Bonner Haus der Geschichte aufbereitet. Er interviewte dafür auch Daisy D'Ora (1913-2010), die Siegerin von 1931. "Sie hat mir erzählt, dass sie bei Bertolt Brecht auf dem Schoß saß", berichtet der Forscher. Als es bei der Misswahl an Damen fehlte, sei D'Ora einfach gefragt worden: "Willste 'n Fahrrad gewinnen?". Und da habe sie eben mitgemacht. Daisy D'Ora, die ihren Adelstitel durch den Künstlernamen tarnte, um nicht als vulgär zu gelten, machte Filmkarriere.
"Heldin der Arbeit" statt Schönheitskönigin
"Misswahlen waren immer Produkte der Unterhaltungs- und Werbeindustrie", sagt Didczuneit. Doch gerade deshalb passten sie manchmal nicht ins System. In der Nazi-Zeit mit dem Frauenideal des Heimchens am Herd wagte niemand eine solche Kür. Auch die junge DDR lehnte Misswahlen ab und setzte auf die "Heldin der Arbeit".
Nach der Blüte in den westdeutschen 50er und 60er Jahren bekamen Misswahlen einen neuen Gegner: die Frauenbewegung, die gegen die "Fleischbeschau" zu Felde zog. Später machten sich in Deutschland konkurrierende Veranstalter das Leben schwer, verschiedene Titel verwirrten das Publikum. Und die jungen Siegerinnen mussten sich zusehends gegen ein "Friseusen-Image" zur Wehr setzen. Einzelne schaffte es trotzdem, ihren Titel als Sprungbrett zu nutzen. Am besten mag Verona Feldbusch in Erinnerung bleiben, Miss Germany 1993.
Schöne Männer, schöne Senioren
Es gibt immer wieder Versuche, das Misswahl-Prinzip mit neuen Sparten zu beleben. Seit mehr als 20 Jahren gibt es einen Mister Germany. Und Ralf Klemmer hat im Zuge der Demografie-Debatte noch eine neue Klientel entdeckt. Seit einem Jahr lässt er die Miss 50plus Germany wählen - und rund 1000 Frauen haben sich sofort beworben. (dpa)
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