Pflegenotstand in Polen: Die Jungen gehen, die Alten leiden
Weil die Bezahlung im Nachbarland Deutschland deutlich besser ist, arbeiten viele Polen nicht mehr in der Heimat. Ein neues Urteil zur häuslichen Pflege könnte die Probleme in Osteuropa vergrößern.
Wer in Polen in der Pflege arbeitet, der „muss schon einen kleinen Knacks weghaben“. So sieht es Adam Stradowski, der mit seiner gemeinnützigen Gesellschaft „Zuflucht“ in Warschau ein Heim für mittellose Alte und Kranke betreibt. Was er mit dem Knacks meint: „Man muss Menschen lieben, einfach so.“ Reich werde in Polen keine Pflegekraft. Eher im Gegenteil. Denn es gibt nicht einmal eine Pflichtversicherung wie in Deutschland, sondern nur ein Hilfsgeld von rund 50 Euro im Monat. Fast alles hängt deshalb an der Menschenliebe. Und an den Familien. Die aber müssen sich wegen der wachsenden Anforderungen der modernen Gesellschaft immer öfter Unterstützung von Dienstleistern holen. Zumal die Kirche in dem katholischen Land an Bedeutung verliert. Den Rest regelt der Schwarzmarkt.
In Polen gibt es beides: Wirtschaftsboom und alternde Gesellschaft
Dieses „System“ steht seit Jahren unter schnell steigendem Druck. Denn Polen ist alles zugleich: eine boomende Wirtschaft und eine alternde Gesellschaft, die schrumpft und dabei ihre besten Köpfe und die fleißigsten Hände durch Abwanderung an den Westen verliert. Schließlich liegt das reiche Deutschland vor der Haustür. Und genau deshalb hat das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Mindestlohn in der häuslichen Pflege nicht nur Auswirkungen auf die Lage hierzulande, sondern könnte im schlimmsten Fall zu einem Kollaps der Altenbetreuung in Polen führen. Im besten Fall erhöht sich erst einmal „nur“ der Druck noch weiter.
Das existenzielle Problem lässt sich, jenseits des Faktors Menschenliebe, mit ein paar nackten Zahlen beschreiben. In Polen bieten Dienstleister eine häusliche Rund-um-Betreuung für 4000 Zloty im Monat an. Das sind knapp 900 Euro. Davon kommt etwa die Hälfte bei den Beschäftigten an, bestenfalls 500 Euro. Die gleichen Pflegekräfte können aber jederzeit unter ungezählten legalen Angeboten aus Deutschland wählen, bei denen ein monatlicher Verdienst von 1500 bis 2000 Euro winkt. Erhöht sich nun die Bezahlung nach dem Erfurter Urteil weiter, dürfte sich bald auch die letzte Pflegekraft in Polen überlegen, zumindest für eine begrenzte Zeit abzuwandern.
"Es werden mehr Beschäftigte auf den Schwarzmarkt ausweichen"
Ob es so kommt, ist noch nicht ausgemacht. Denn nach dem Urteil könnte das Modell der häuslichen Dauerbetreuung in Deutschland teurer werden – oder seltener. Dann würden sogar weniger osteuropäische Pflegekräfte gebraucht. Fachleute halten das angesichts des eklatanten Personalmangels in der gesamten Branche allerdings für unwahrscheinlich. Renata Föry, die polnische Pflegekräfte legal nach Deutschland vermittelt, erwartet eine ganz andere Entwicklung. „Es werden noch mehr Beschäftigte auf den Schwarzmarkt ausweichen“, fürchtet sie und rechnet vor: „Würden keine osteuropäischen Pflegekräfte in Deutschland arbeiten, würde das komplette System sofort zusammenbrechen. Und dabei sprechen wir nur von den fünf oder zehn Prozent legal Beschäftigten. Bei den übrigen 90 Prozent schauen in Deutschland ohnehin alle weg.“
Doch auch diesseits des Schwarzmarktes gehört es längst zur europäischen Wirklichkeit, dass die östlichen EU-Staaten einen dramatischen Verlust an Fachkräften zu verzeichnen haben. Das gilt für Medizinberufe, aber ebenso für das Handwerk, die Tech- oder die Pharmabranche. Ärztinnen sind gegangen, Ingenieure, Programmiererinnen und Bauarbeiter. Rund 2,5 von 38 Millionen Menschen haben Polen nach 1989 Richtung Westen verlassen, fast sieben Prozent. Staaten wie Lettland und Bulgarien haben sogar 20 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Hinzu kommt eine stark gesunkene Geburtenrate, die sich in Polen zuletzt bei etwa 1,4 eingependelt hat – bei einer um fünf Jahre gestiegenen Lebenserwartung. Immer weniger Junge müssen also immer mehr Alte versorgen.
Als letzte Lösung bleibt für viele Familien nur der illegale Weg
Eine Geburtenrate von 2,1 ist nötig, damit eine Bevölkerung nicht schrumpft. Für Polen sagen daher alle Studien einen weiteren deutlichen Rückgang der Bevölkerung voraus. Ein Negativszenario der UN geht sogar von einer Halbierung bis 2080 aus. Peter Oliver Loew, der Leiter des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, beschreibt die möglichen Folgen so: „Insbesondere kleinere Städte würden leiden, gerade in den (abgelegenen) östlichen Landesteilen. Es würde immer schwieriger werden, die notwendige Infrastruktur von öffentlicher Verwaltung, Bildungswesen, ärztlicher Versorgung oder Altenpflege aufrechtzuerhalten.“
Letzteres gilt für Polen schon jetzt umso stärker, als durch die Abwanderung das System der familiären Pflege vor dem Zusammenbruch steht. Die Rechnung ist simpel: Gehen die Kinder, altern die Eltern allein. Die rechtskonservative PiS-Partei, die ihre Stammwählerschaft in den ländlichen Regionen und unter den älteren Menschen hat, versucht seit ihrer Regierungsübernahme 2015 mit einer aktiven Sozialpolitik gegenzusteuern. Sie hat erstmals in Polen ein Kindergeld eingeführt und die Abgabenlast für junge Menschen deutlich reduziert. Die Anziehungskraft der reichen westlichen EU-Staaten kann das aber kaum abmildern.
Was für viele Familien in Polen als letzter Ausweg bleibt, sind illegale Lösungen. Rund 80 Prozent der häuslichen Pflege ist mittlerweile über den Schwarzmarkt organisiert, schätzen Fachleute. Zum Einsatz kommen dabei meist Pflegekräfte, die ihrerseits aus dem Osten kommen, meist aus der Ukraine oder Belarus.
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